Was muss ein Dirigent tun, damit wir alles hören können?

Im philharmonischen Konzert staunten Wiener Musikfreunde nicht schlecht: Die Musiker nahmen ungewohnte Sitzplätze ein.

Das war eine schöne Überraschung! Vielleicht nicht für die vielen Wien-Touristen, die gern nach jedem Symphoniesatz applaudieren – wie das einst übrigens zu Zeiten von Mozart, Schubert oder auch noch Johannes Brahms durchaus üblich war, heute freilich verpönt ist. Aber für die Wiener Kenner, die sich freuen, ihre Philharmoniker auch einmal jenseits von deren notorisch ausgebuchten Abonnementkonzerten im Musikverein hören zu dürfen. Die staunten nicht schlecht, als die Musiker vor der Aufführung von Schuberts Großer C-Dur-Symphonie ihre Plätze einnahmen: Da saßen plötzlich die Flöten am Konzertmeisterpult, denn mit Zubin Mehta hatten sich die Philharmoniker offenbar ausgemacht, diesmal die Wichtigkeit der Holzbläser zu betonen und zu versuchen, wie das klingt, wenn Flöten, Oboen, Klarinetten und Fagotte den Dirigenten quasi umringen – und die Streicher erst hinter ihnen Platz nehmen.

Der Unterschied?

Er ist wirklich eklatant. Die Bläser rücken auch akustisch plötzlich in den Mittelpunkt, erklingen schärfer fokussiert, interessanterweise gleichzeitig rhythmisch großzügiger artikulierend, was möglicherweise daran liegt, dass der sonst oft rettende Blick zum Konzertmeister nicht mehr möglich ist. Die Herren sehen Zubin Mehta direkt vor sich – einen Maestro, mit dem sich die Philharmoniker seit Langem mehr oder weniger „blind verstehen“ . . .

Diesem Treppenwitz verdankt das Publikum nun immerhin Stoff für Pausentratsch, bei dem unter anderem hoffentlich nicht die Facette der Platzierung der Geigengruppen übergangen wird: Für das klassische Repertoire inklusive Bruckner und Mahler ist es förderlich, wenn die akustische Trennung von Prim- und Sekundgeigen gewahrt bleibt. Sie – und damit viel von der strukturellen Differenzierung der Kompositionen – geht verloren, wenn die „Zweiten“ hinter den „Ersten“ zu sitzen kommen und man nicht deutlich wahrnimmt, dass sie des Öfteren die Führung übernehmen.

Bliebe nachzutragen, dass die oft beklagte akustische Unterbelichtung der Holzbläser gegenüber dem Streicherapparat ein junges Phänomen ist. Dass die „Wiener Geigen“ (erste wie zweite) samt ihren Kollegen von den tieferen Registern zu herrlicher Breitwand-Entwicklung fähig sind, haben Dirigenten von Böhm und Karajan bis Bernstein immer mit Freude forciert. Freilich, sie verdoppelten (wie schon Mozart anno 1781) bei großen Werken das Holz, ja sogar die Hörner. Auf diese Weise genoss man den legendären Wiener Klang, ohne auf deutliche Bläserstimmen zu verzichten. Die sind freilich – und das ist keine wienerische Frage (wir müssen nur Otto Klemperers Aufnahmen studieren) – für die analytische Durchdringung von Klassik und Romantik essenziell . . .

E-Mails an:wilhelm.sinkovicz@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 26.09.2016)

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