Plötzlich spielen sie in Wien Gluck

Was passiert, wenn alle Vögelchen ausgeflogen sind? Es nisten sich andere ein.

Kommenden Sonntag hat „Armida“ von Christoph Willibald Gluck Premiere an der Wiener Staatsoper. Dergleichen gilt in unseren Tagen als Exoticum. Wenn auch in der jüngeren Vergangenheit Schritte gesetzt wurden, um den Namen Gluck wieder in die Diskussion zu bringen.

Es könnte angemerkt werden, dass es nicht zuletzt die Not sei, die einen Staatsopern-Direktor dazu zwingt, in Wochen der Abwesenheit der Philharmoniker bzw. des gesamten Staatsopern-Ensembles im Zuge von Gastspielreisen nach Fernost, ein Originalklangorchester wie die Musiciens du Louvre und deren Chefdirigenten, Marc Minkowski, ans Haus zu holen.

Freilich handelt es sich bei diesen Musikern um die Crème de la Crème der Barockpioniere. Außerdem hat Wien Meister Gluck gegenüber eine Bringschuld.

Es war Wien, nicht Paris, wo Ritter Gluck mit seinem Opernreformwerk begann. Und die Erfolgsserie der jüngsten Produktion von „Alceste“, die Ende der vergangenen Spielzeit mit Veronique Gens in der Titelpartie wieder aufgenommen wurde, hat dem Publikum am Beginn des 21. Jahrhunderts eindringlich vor Ohren geführt, warum diese Musik einst als ungemein fortschrittlich und revolutionär galt. Alcestes große Szene, „Divinité du Styx“, Bravourstück der Callas, enthält im Keim schon den Furor Wagner'scher Monologe.

Dieser Wirkungsmacht der Gluck'schen Reformopern waren sich die Zeitgenossen wohl bewusst – und noch nachfolgende Generationen setzten seinen Namen neben den Haydns, Mozarts und Beethovens. Als man plante, in Wien ein Klassikerdenkmal zu errichten, waren es ganz selbstverständlich diese vier, deren Köpfe in Stein gemeißelt werden sollten.

Anno 1869 eröffnete man die neue Wiener Hofoper nicht nur mit Mozarts „Don Giovanni“, sondern plante selbstverständlich auch Aufführungen von Glucks „Armida“. In der Folge gab es noch zwei weitere Inszenierungen dieses Werks im Haus am Ring. Und doch: Marc Minkowski gibt am kommenden Sonntag den Auftakt zur erst 30. Aufführung dieser Oper seit 1869. Ein wenig ist es mit Gluck so wie Lessing es für Klopstock postuliert hat: Man lobt ihn, doch kennt keiner seine Werke. Als ob es Buch-Musik gäbe wie Buch-Geld. Wie die jüngsten Gluck-Ausgrabungen erwiesen haben, lässt sich ein heutiges Publikum durchaus von realen Klängen überzeugen.

So können, wenn die Staatsoper auf Tournee geht, nicht nur die Tokioter Musikfreunde, sondern auch die daheimgebliebenen allerhand erleben...

E-Mails:wilhelm.sinkovicz@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 10.10.2016)

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