Das Pokémon-Tierchen als Schoßhündchen der Apokalypse

Woman plays augmented reality mobile game 'Pokemon Go' by Nintendo at branch of Sberbank in central Krasnoyarsk
Woman plays augmented reality mobile game 'Pokemon Go' by Nintendo at branch of Sberbank in central KrasnoyarskREUTERS
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Apropos „Pokémon Go“: Eine gleichgeschaltete Masse in einer virtuell erweiterten Welt zeigte schon Jon Rafman bei der Berlin-Biennale.

Allen, die bis jetzt noch nicht verstanden haben, welchen Sinn es haben soll, in der Stadt herumzulaufen und dabei virtuelle Viecherln mit virtuellen Bällen abzuschießen, sei mitgegeben: Das mit dem Internet wird wieder vorbeigehen. Ganz sicher.

Bis dahin schaut man eben ein bisserl Kunst. Die weiß es meist schon. Die neunte Berlin-Biennale etwa, die noch bis Mitte September läuft. Bei ihrer Eröffnung Anfang Juni hat von „Pokémon Go“ noch niemand etwas gehört. Da jagte noch niemand vor dem Brandenburger Tor „Taschenmonster“ (Pocket Monsters), die man nur auf dem Handybildschirm sehen kann und dann gegen andere Tierchen in eigenen Arenen kämpfen lässt. Da stand man noch wenige Meter weiter und höher, milde lächelnd auf der Terrasse der Akademie der Künste und öffnete die Büchse der Pandora, die uns der junge kanadische Künstler, Philosoph und Literaturwissenschaftler Jon Rafman bereitgestellt hatte.

Man muss sich nur trauen, diese Brille, die schon aussieht wie eine Box, auf den Kopf, über die Augen zu schnallen. Es handelt sich um ein Head-Mounted-Display, noch genauer um ein Oculus-Rift-Gerät, eine mittlerweile vom Facebook-Konzern gekaufte Abspieltechnik, die praktisch das gesamte Gesichtsfeld ausfüllt, die Bildränder verschwinden lässt. Man erliegt also völlig der Täuschung, taucht ein in eine virtuelle Welt, fühlt sich „im Spiel“.

Gereicht wird einem das Teufelsteil von einer Wärterin, die neben einem stehen bleibt, wie sie versichert. Um aufzupassen. Worauf? Die anderen Wesen, die sich auf der Terrasse befinden, verstärken das ungute Gefühl – Skulpturen von Tierpaaren, die ineinander stecken, nicht kopulierend, sondern sich verschlingend. Ein Nashorn und ein Bär. Eine Echse und ein Affe etc. Sie sind das Erste, was man dann sofort wiedererkennt, blickt man durch die Brille. Nein, blickt man auf den Bildschirm. Auf dem nur programmiert ist, was einen auch draußen, einen auch real umgibt. Ein Trick, der ermöglicht, uns vorzugaukeln, dass unsere reale Welt mit der virtuellen eins ist. Dass sie verschmolzen sind. Ähnlich wie bei „Pokémon Go“, wo eben die Handydisplays als „Brillen“ auf unserer Umwelt funktionieren, die doch eigentlich völlig normal aussieht. Bis plötzlich ein Glumanda oder ein Pikachu um die Ecke biegt. Augmented Reality Games heißt das in der Fachsprache, Spiele, in der unsere Realitätswahrnehmung computergestützt „erweitert“ wird.

Bei Jon Rafman endet das apokalyptisch: Blickt man um sich, beginnen die Tiere auf der Terrasse sich plötzlich tatsächlich zu verschlingen. Der Boden beginnt einzustürzen, man glaubt, man fällt, es ist schrecklich, auch schrecklich peinlich, man fuchtelt mit den Händen herum. Bis man eingereiht in einer gleichgeschalteten Masse von Avataren landet. Runter mit dem Ding. Danke. Aber es geht nicht vorbei. Nicht mehr. Die gleichgeschaltete Masse an „Pokémon Go“-Spielern ist nur die ironische Ouvertüre zum Ende unserer individuellen Wahrnehmung.

E-Mails an: almuth.spiegler@diepresse.com

(Print-Ausgabe, 23.07.2016)

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