Eines steht unbeschnitten fest: „Meine Vorhaut gehört mir!“

Ich bin ein pragmatisiert philosophierender Hypochonder, der neuerdings unter Beschneidungsparanoia leidet.

Jessas, bin ich ins Fettnäpfchen getreten! Jetzt stecke ich, unbeschnitten bis zum Hals, mittendrin. Denn das letzte Mal hatte ich die Chuzpe – ich wurde dafür mit Ausdrücken wie „Vorhautkiller“ und „Kerzlschlucker“ bedacht –, mich darüber auszulassen, was mir beinahe herausgerutscht wäre:

„Da ich gerade gelesen habe, dass die Zahl der Schwangerschaftsabbrüche in Österreich jährlich auf mindestens dreißig- bis vierzigtausend geschätzt wird, davon die meisten ohne medizinischen Grund, wollte mir schon herausrutschen: ,Besser beschnitten als abgetrieben!‘ Stattdessen behielt ich das mir fast Herausgerutschte für mich. Schließlich muss ich mich vor meinen kastrationsängstlichen Kollegen verantworten, die mir beschneidungskritisch intimieren, dass das eine mit dem anderen nicht vergleichbar und daher das mir fast Herausgerutschte ein ethisches No-go sei.“

Als ich, bei meinem beschnittenen Lieblingspsychiater auf der Erleichterungscouch, mich tränenüberströmt darüber beklagte, dass meine kastrationsängstlichen Kollegen, namentlich aus dem Lager der beschneidungskompetent Unbeschnittenen, mit ihren Exzellenzköpfen unwirsch wackeln (weil das eine mit dem anderen nicht vergleichbar und daher das mir fast Herausgerutschte ein ethisches No-go sei), da stellte mir mein Lieblingspsychiater die Frage, die er mir jedes Mal stellt, bevor er mir mitteilt, dass die heutige Stunde vorüber ist: „Und was denken Sie?“

Ha! Das werde ich gerade ihm, dem ich, ein bescheiden pragmatisierter Hypochonder, für läppische fünfzig Minuten dreihundert Euro zahle, auf die Nase binden, zumal ich, während ich tränenüberströmt von der Erleichterungscouch krabble und hinausstolpere, nicht genau weiß, was ich denken darf. Jawohl, darf. Denn ich leide neuerdings unter Beschneidungsparanoia. Und das hat seine Ursache! Hinter jedem Eck, so argwöhne ich, könnte mein Lieblingsurologe lauern, der, ein unbeschnittener Mittvierziger, alle seine Sechzig-plus-Patienten beschneiden möchte, um „das Feuchtgebiet da unten“ trockenzulegen.

Na danke vielmals. Doch was, so werde ich von meinen kastrationsängstlichen Kollegen – ganz zu schweigen von meinen, trotz chronischen Penisneids, gendergemainstreamten Kolleginnen – gefragt, hat das damit zu tun, dass bei uns fristengeregelt abgetrieben wird? Hier meine Antwort: Bitteschön, nichts! Weil, was sollten einige tausend aus religiösen Gründen ihrer Vorhäute entledigte Kindlein damit zu tun haben, dass zehntausende abgesaugt werden, bevor sie noch geboren wurden, und zwar aus durch und durch weltlichen Gründen? Nichts, bitteschön, nichts!

Was mir bestimmt nicht herausrutschen wird: Meine Antwort hört sich, jedenfalls für meine beschämten Ohren, opportunistisch an, klingt aber politisch korrekt, nicht wahr? Man soll eben von einem pragmatisierten Nervenschwachen, der die Fristenregelung als kleineres Übel stets bejaht hat, nicht zu viel verlangen. Sonst würde mir glatt herausrutschen, dass wir unsere Kälte gegenüber werdendem Leben durch eine hysterische Kritik der minderen Zumutung überspielen, die manch kleinem Erdenbürger aus seiner Kultur erwächst. Ja, sonst würde mir herausrutschen, dass unsere politische Korrektheit ein tiefsitzendes Schuldgefühl verdeckt... Das muss ich meinem Lieblingspsychiater erzählen, damit er auch was lernt hinter seiner dicht verschlossenen Tür – und, bitteschön, unhörbar für meine emanzipierte Kollegenschaft, die den Exzellenzslogan geprägt hat: „Meine Vorhaut gehört mir!“


E-Mails an: peter.strasser@uni-graz.at

("Die Presse", Print-Ausgabe, 01.08.2012)

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