Ist die Zivilgesellschaft eine Scheibe?

Der Erfolg gegen Acta ist Grund zum Feiern. Er ist aber auch eine gute Gelegenheit, den Blick über die Festplatte hinauszuwerfen.

Acta ist also endgültig gestorben. Das ist gut so. Wesentlich beteiligt daran dürfte auch der breite Widerstand der europäischen Öffentlichkeit gewesen sein. Das ist erst recht gut. Aber haben wir deswegen bereits Gelegenheit, die neue europäische Zivilgesellschaft abzufeiern? Wohl kaum. Denn zweifellos gäbe es einige Fälle, in denen öffentliche Aufmerksamkeit à la Acta Not täte. Einer davon kreist um ganz ähnliche Themen: Überwachung, Menschenrechte und Datenschutz.

Die Dual-Use-Verordnung

Ungefähr gleichzeitig mit der beginnenden Empörung rund um Acta gelangte im EU-Parlament eine Änderung der Dual-Use-Verordnung zur Abstimmung. Diese Verordnung regelt seit 1995 den Export von Gütern, die für die Verwendung im zivilen Bereich gedacht sind, aber auch für militärische Zwecke eingesetzt werden können.

Traurige Berühmtheit erlangte die Dual-Use-Verordnung, weil sie nicht verhindert hatte, dass Technologie zur Überwachung von Mobilfunk und Internet an Diktaturen verkauft worden war. Im Iran spielte beispielsweise während der Proteste 2009 die Auswertung von Internetkommunikation und Mobilfunkdaten eine wesentliche Rolle bei der Ausforschung von Regimegegnern. Wie sich damals herausstellte, hatte erst im Jahr davor Nokia Siemens Networks (NSN) Technologie an das Land geliefert, mittels derer Internet und Mobilfunk gezielt überwacht werden konnten.

Wie war es möglich, dass ein europäisches Unternehmen 2008 Überwachungstechnologie an den Iran verkaufte? Eine Erklärung dafür liefert auch der Entstehungskontext der Dual-Use-Verordnung. Denn anzunehmen wäre, dass es bei der Formulierung der Verordnung primär darum ging, sicherzustellen, dass Dual-Use-Güter nicht in die falschen Hände geraten. Der grüne EU-Parlamentarier Reinhard Bütikofer sieht allerdings ein anderes Hauptmotiv: Mit Schaffung der Dual-Use-Verordnung sollte vor allem der Handel zwischen „befreundeten“ Staaten wie Australien, Kanada, Japan, Neuseeland, Norwegen, der Schweiz und den USA erleichtert werden.

Dieses Motiv der erleichterten Ausfuhr an „befreundete“ Länder trat dann im Laufe der Zeit weiter in den Vordergrund. Als Konsequenz wurden auch für Länder Ausfuhrgenehmigungen erteilt, in denen keineswegs gesichert war, ob demokratische und menschenrechtliche Standards eingehalten wurden.

Die IT-Überwachungsbranche

Als sich rund um 2000 mit dem Machtwechsel in den USA und dem „Krieg gegen den Terror“ ein rapide wachsender Markt für IT-Überwachungstechnologie zu formieren begann, konnten die Produkte dieser Branche daher auch problemlos an Diktaturen exportiert werden – obwohl bereits damals klar sein musste, dass Länder wie Ägypten, Libyen, Syrien, Jemen und der Iran die Technologien einsetzen würden, um Menschenrechte massiv zu verletzen.

Ein von Bloomberg dokumentierter Fall zeigt besonders deutlich, wie skrupellos die Firmen dabei vorgingen. Noch bis Anfang November 2011 installierten in Damaskus Bloomberg-Berichten zufolge Angestellte der italienischen Firma Area SpA unterschiedliche Produkte zur Überwachung der Internetkommunikation. Sie taten dies im Auftrag des syrischen Geheimdienstes und zu einem Zeitpunkt, als bereits allgemein bekannt war, dass das syrische Regime tausende Menschen ermordet hatte und kein Ende der Gewalt zu erwarten war.

Zahnlose Änderungen

Bereits das Bekanntwerden der Vorwürfe gegen NSN hatte zur Folge, dass erstmals eine breite Öffentlichkeit von den Geschäften zwischen IT-Unternehmen und diktatorischen Regierungen erfuhr. Als sich diese Geschichte dann ganz ähnlich 2011 in Ägypten, Libyen und Syrien wiederholte, standen die Chancen für eine Änderung der Dual-Use-Verordnung, bei der menschenrechtliche Standards gezielt miteinbezogen wurden, nicht schlecht.

2008 war eine Überarbeitung der Verordnung durch die Kommission angelaufen, 2010 wurde der dazugehörige Änderungsvorschlag dem EP präsentiert. Was allerdings dort folgte, muss auch als Versagen der europäischen Öffentlichkeit beschrieben werden. Denn obwohl der zuständige Berichterstatter des EP, Jörg Leichtfried (SPÖ), einen konstruktiven Vorschlag zur Überarbeitung des Kommissionsentwurfes vorlegte, waren die letztendlich beschlossenen Änderungen skandalös geringfügig.

Kritische Öffentlichkeit fehlt

Gestrichen wurde beispielsweise die Forderung, dass für problematische Güter bereits vor dem Export um eine Genehmigung angesucht werden muss. Das Ansuchen muss nun 30 Tage nach dem Export gestellt werden – man stelle sich Derartiges bei der Erteilung von Einreise-Visa vor.

Zu verdanken ist dieses Ergebnis vor allem dem Druck konservativer Abgeordneter, die auch unbehelligt von zu viel öffentlicher Aufmerksamkeit agieren konnten.

Abgesehen von dieser Diskrepanz in der öffentlichen Wahrnehmung gibt es durchaus Parallelen zwischen Acta und der Dual-Use-Verordnung: In beiden Fällen ging es um tagesaktuelle Themen, die massenmediale Aktualität hatten. Beide Male ging es um den Einfluss sich schnell entwickelnder IT-Technologien.

Menschenrechte oder Konsum?

In beiden Fällen ging es darum, menschenrechtliche Standards gegenüber kommerziellen Interessen durchzusetzen. Allerdings: Konsuminteressen standen nur bei Acta auf dem Spiel. Geht also der Blick der europäischen Zivilgesellschaft tatsächlich nur bis zum Rand der eigenen Festplatte? Das wäre enttäuschend.

Zugegeben, erschwert wird die Mobilisierung der Öffentlichkeit im Fall der Dual-Use-Verordnung auch dadurch, dass die Branche, um die es hier geht – jene Unternehmen, die ihr Geld mit IT-Überwachungstechnologie machen – äußerst geheimnisvoll agiert und sich sehr wirkungsvoll gegen jede Form öffentlicher Kontrolle zur Wehr setzt. Umso wichtiger wäre aber gerade öffentliches Engagement in dieser Sache.

Mehr als nur Eigeninteresse

Aus menschenrechtlichen Motiven sollten wir diese Branche, ihre Aktivitäten und die Reaktion der EU darauf genauestens beobachten. Wem das zu wenig ist – und es fällt schwer, hier nicht zynisch zu werden – der sollte zumindest die eigenen Interessen im Blick haben. Denn die Software, die in Diktaturen verwendet wird, um die Bevölkerung zu überwachen, ist auch in Europa im Einsatz.

Zur polizeilichen Überwachung des Mobilfunkes oder beispielsweise, wenn es darum geht, unternehmensinterne Internetnutzung zu steuern. Noch wird die Anwendung der vorhandenen Technologie von Datenschutzbestimmungen beschränkt. Aber in Ländern, die es mit den Menschenrechten nicht so genau nehmen, wird sie einstweilen ausgiebig getestet.


E-Mails an: debatte@diepresse.com

Zur Person

Alexandra Siebenhofer hat Soziologie, Sinologie und Wirtschaftsinformatik in Wien, Leiden, Nanjing und Eisenstadt studiert. Sie ist Redakteurin von Radio Stimme, dem politischen Magazin der Initiative Minderheiten. Dort arbeitet sie gerade an einem Radiobeitrag zur Dual-Use-Verordnung. [Privat]

("Die Presse", Print-Ausgabe, 13.07.2012)

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