Neue Matura – und wer ist eigentlich ein Bildungsexperte?

Von einer alten Sprache, einer neuen Reifeprüfung und immer gleichen Fragen.

Jetzt ist schon wieder was passiert. Als Mitglied der ministeriellen Arbeitsgruppe für die    Neue Matura ist man überraschende Wendungen ja gewohnt. Aber kommt man informationsentwöhnt aus dem Urlaub in den gallischen Dörfern zurück, hat man mediale Auftritte versäumt, deren Nachlektüre einen rasch wieder zum sogenannten „Ernst des Lebens“ zurückführt.

Beginnen wir mit Wissenschaftsminister Karlheinz Töchterle. Dieser macht sich einerseits Sorgen um gewisse Teile der geplanten „Teil-Zentralmatura“ wie die vorwissenschaftliche Arbeit, worauf die für das Projekt verantwortlichen Beamten aus dem Unterrichtsministerium, Andreas Schatzl und Christian Dorninger, ausführlich auf dieses vermeintliche „Menetekel“ replizieren. Der Wissenschaftsminister beginnt andererseits seine Ausführungen mit einem oft übersehenen Aspekt in der Matura-Diskussion, nämlich dass in vielen Bereichen ein Start jederzeit möglich (gewesen) wäre. Konkret nennt er das Fach Latein.
Warum gerade, warum noch immer Latein? Das fälschlich oft totgesagte (ist der Wunsch mancher Vater des Gedanken?) Fach boomt. „Auferstanden von den Toten“ konstatiert „Der Spiegel“ vor wenigen Tagen angesichts von fast einer Million Lateinlernenden in Deutschland. In Österreich hat sich die Zahl der freiwillig Latein Lernenden (das Fach ist seit Jahren alternativ zu einer modernen Fremdsprache wählbar) in den letzten zehn Jahren um ein Drittel gestiegen. Engagierte Lehrkräfte, lebensnahe Lehrplanthemen (wie „Liebe, Lust und Leidenschaft“ oder „Begegnung und Umgang mit dem Fremden“), moderne Unterrichtsbehelfe sind die äußeren Voraussetzungen, um den inneren Wert zu sichern.

Im „Spiegel“ ist von der Entschleunigung die Rede, von der Möglichkeit, Texte und Inhalte langsam und intensiv zu erarbeiten und nicht nur schnell zu googeln. Nennen wir es Textverständnis, nennen wir es Lesekompetenz.
Jedenfalls nützt es weit über die Fach- und Schulgrenzen hinaus, nicht zuletzt bei neuen, in Österreich zum Teil (noch) ungewohnten Prüfungsformaten, die über die Reproduktion, die simple Wiedergabe von Auswendiggelerntem, hinausgehen. Solche Aufgabenstellungen, bei denen verständnisvolles Lesen Voraussetzung für das Herangehen an die eigentliche Lösung ist, finden sich zum Beispiel bei den berüchtigten PISA-Fragen oder im Medizinaufnahmetest – und auch in der viel diskutierten, drei Säulen umfassenden „Zentralmatura“.

Zentral oder nicht zentral?

Zu den drei Säulen: Die verpflichtende vorwissenschaftliche Arbeit wird an der Schule im Einvernehmen zwischen den Kandidatinnen und Kandidaten sowie den betreuenden Lehrerinnen und Lehrern geschrieben und beurteilt. Die schriftlichen Fächer Deutsch, Mathematik, moderne und klassische Fremdsprachen werden bundesweit am selben Tag mit denselben standardisierten Aufgabenstellungen, die vorgegeben werden, absolviert, die Beurteilung obliegt den Lehrkräften. Die Themen für die mündliche Prüfung schließlich werden von der jeweiligen Fächergruppe an den einzelnen Schulen festgelegt, die Aufgabenstellung und die Beurteilung liegen wieder bei den Lehrkräften beziehungsweise der Prüfungskommission. Darf man eine solche Prüfungsform pauschal als Zentralmatura bezeichnen? Die eigentlichen Ziele der Reform sind andere, leider in der Diskussion oft vernachlässigt. Bei der vorwissenschaftlichen Arbeit geht es neben dem Inhalt (die Themen müssen sehr spezifisch sein, daher sollten sich die Themenkreise nicht so schnell erschöpfen) auch um das Erlernen von Methoden und die Präsentation der Ergebnisse vor Publikum. Beide Fertigkeiten sollten genuine Interessen einer modernen Allgemeinbildung sein und finden sich großteils auch in einem wenig gelesenen Teil des Lehrplans. Die schriftlichen Fächer sind standardisiert und kompetenzorientiert.

Vom Wissen zum Können

Diese Kompetenzorientierung ist in vielen Konferenzzimmern noch Diskussionspunkt, vielleicht auch, weil inhaltlich bisher zu wenig transparent. Kompetenz ist, vereinfacht gesagt, der Schritt vom Wissen zum Können, von der Reproduktion zum Transfer (ich kann erlerntes Wissen in neuen Situationen anwenden) und zur Reflexion (ich kann Wert und Bedeutung meines Wissens kritisch einschätzen). Die Gegenstände der mündlichen Prüfung schließlich wählen die Kandidatinnen und Kandidaten ohne jede Vorgabe selbst. Diese Schülerautonomie bildet im besten Fall auch die schulautonome Schwerpunktsetzung ab. Bietet eine Schule zum Beispiel verstärkt Sprachen an, sollten diese auch bevorzugt gewählt werden – ansonst sollte man sich Gedanken über die Schulentwicklung und deren Umsetzung machen. Die Befürchtung, dass dann viele die Fächer mit der geringsten Stundenzahl und Stoffmenge nehmen, ist eigentlich ein Zweifel an jener Mündigkeit, welche Schule ihren Absolventinnen und Absolventen als eines der wichtigsten Bildungsziele vermitteln sollte.

Vor Kurzem betonten Bundesministerin Claudia Schmied und der Rektor der PH Niederösterreich, Erwin Rauscher, dass das Fortbildungsangebot und die Fortbildungsbereitschaft der Lehrkräfte deutlich steigen. Das gibt Hoffnung, dass mit Blickrichtung flächendeckender Einführung der Neuen Matura auch die letzen Unsicherheiten, die als ein Grund für die Verschiebung genannt wurden, durch eine umfassende und sachorientierte Information beseitigt werden können.

Die Scheinexpertenfalle

In der aufgeregten medialen Diskussion rund um die Verschiebung der Neuen Matura (seitdem ist es erstaunlich still geworden) kamen die üblichen Verdächtigen, die „Niki Laudas der Schule“, wie jüngst in einem Interview formuliert wurde, zu Wort. Das führt unweigerlich zur Frage: Wer ist ein Bildungsexperte? Sind Lehrerinnen Bildungsexpertinnen, Lehrer Bildungsexperten? Sie sind zum Großteil Unterrichtsexperten. Der Blick über (s)eine Schulform hinaus, die Erfahrung auch in anderen Bildungssektoren von der Kindergartenpädagogik bis zur Universität, die Kenntnis internationaler Modelle nicht nur aus zweiter oder dritter Hand(reichung), die Auseinandersetzung mit oder gar die Veröffentlichung von Fachliteratur sind über die Unterrichtserfahrung hinausgehend Kriterien, die Expertentum auf Bildungsebene ausmachen (sollten).

Verliert die Fußballnationalmannschaft, hätten Millionen von Teamchefs anders aufgestellt. Bleibt Österreich medaillenlos, wissen alle sofort wirkende Rezepte (zu denen auch die Schule beisteuern soll). Tappen wir nicht in diese Scheinexpertenfalle! Wenn jetzt die Schule wieder losgeht, werden lehrseits „experti“, Erfahrene in Unterricht und Bildung, gefragt sein. Verlieren wir Expertinnen und Experten aber dabei lernseits nicht diejenigen aus dem Blick, für deren Bildung all diese Diskussionen geführt werden, damit sie nicht „expertes“, Ungebildete, bleiben: die Schülerinnen und Schüler!

E-Mails an: debatte@diepresse.com

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