Internetgeneration: Gekommen, um zu bleiben

Replik. Aufforderung zur Feuerpause: Keine Breitseiten mehr gegen das Internet und seine Phänomene. Erforderlich wäre Medienkompetenz – fundamentale Kulturkritik an der Netzkultur hingegen schießt über das Ziel hinaus.

Das Internet hat es schwer: Es mache blöd, gewalttätig, asozial, dick und leistungsarm; es fördere den Terrorismus und das Mobbing, es zerstöre die Privatsphäre und führe in den Überwachungsstaat; und es verändere die neuronalen Schaltungen im Hirn und damit unsere Persönlichkeit.

Den Wiener Philosophen Peter Kampits schmerzt diese Entwicklung so sehr, dass er im „Presse-Spectrum“ (18. August) sogar Jean Baudrillard zur Unterstützung heranzog: Im Digitalen werde die Realität ermordet; Kants Forderung nach Autonomie werde nivelliert; die „Digi-Kids“ förderten einen kulturellen Niedergang – kurz: Der Mensch höre auf, Mensch zu sein.

In ein ähnliches Horn bläst Manfred Spitzer, Autor von „Digitale Demenz“, der in der „Presse“ vom 31. August. behauptete, frühe Internetnutzung schade dem Hirn und führe dazu, dass die Kinder ihre Jugend „verballerten“.

Irrende Bedenkenträger

Doch Kampits, Spitzer und ähnliche Bedenkenträger irren: Noch nie war der Mensch so sehr da und noch nie hatten (gerade) junge Menschen weltweit so viele Entwicklungsperspektiven – gerade auch dank des Internets. Da Kritik aber ohnedies mehr verrät über jene, die sie formulieren, als über das Objekt, das kritisiert wird, sind Internetanfeindungen höchst interessant. In der Tat befinden wir uns mitten in einem Internetkulturkampf.

Die Technik der Lamentos ist bekannt. Ein bisschen Kant und Descartes (zur Verankerung des eigenen Denkens) und viele wissenschaftliche Studien, die zwar wenig aussagekräftig sind, ein sehr kleines Sample haben oder sich nur auf spezielle soziale Phänomene beziehen – aber wer liest sie schon im Original?

Das Problem liegt in der Selektion und in der Vermischung von tatsächlich negativen Folgen der Internetnutzung und diffusen Konsequenzen der gesellschaftlichen Veränderungen. Ja, manche Studien belegen den Schwund der Lesefähigkeit bei „Digi-Kids“ und die Veränderung von Gehirnstrukturen. Andere Studien problematisieren, dass mit virtueller Kommunikation „eine hohe Unverbindlichkeit“ entstehe und mit sozialen Netzwerken unser auf Kleingruppen ausgelegtes Sozialverhalten verändert werde.

Diese Übersicht klingt in ihrer Gesamtheit tragisch, ist aber gleichzeitig eine Selektion im obskurantistischen Gewande. Für jede Studie, die einen Aspekt der Nutzung moderner Informations- und Kommunikationstechnologien beklagt, gibt es Studien, die den positiven Einfluss des Internets als Innovationsfaktor aufzeigen, dessen Wirkung als Motor ökonomischen Fortschritts, als Katalysator für Menschenrechte, Demokratie und Good Governance, für sozialen Aktivismus und im Kampf gegen die Korruption und als Mittel zur Integration von älteren Menschen, von Randgruppen und Menschen mit Behinderung.

Der Einzelne entscheidet

Ja, moderne Technologien haben negative Auswirkungen. Doch sie haben weit mehr positive. Einzelne Kritikpunkte mögen valid sein, in einer Studienkanonade gehen sie aber unter. Das Problem mit der Internetkritik von Kampits, Spitzer und anderen ist ein fundamentaleres: „Das Internet“ sei schuld; dabei ist das Internet nur ein Netzwerk von Netzwerken.

Zwar weiß man, dass oft nicht the finger pulls the trigger, sondernthe trigger pulls the finger (dass also die Möglichkeit, Partyfotos auf sozialen Netzwerken zu verteilen, die Wahrscheinlichkeit der Verteilung eher erhöht), aber es ist immer noch der Einzelne, der entscheidet. Und dieser ertrinkt nicht, in Kampits' Worten, „in der Informationsflut, auf den Datenautobahnen und im digitalen Irrsinn“.

Die Internetgeneration nutzt vielmehr die Datenautobahn, um Diskurse zu beschleunigen, Meinungen zu sammeln und zu artikulieren und – im Idealfall – positiven sozialen Wandel zu bewirken. Und ja: auch um planlos herumzusurfen und sich an Ballerspielen zu erfreuen. Technologie – und das Internet – ist (und muss) neutral sein.

Das Gefühl des Verlorenseins

Was die fundamentalen Internetkritiker umtreibt, ist ein Phänomen, das man internetinduzierten Daseinszweifel nennen kann – das Gefühl, sich nicht ganz heimisch zu fühlen in dieser Welt mit ihren Bits und Bytes, mit Zeitungen, die immer auf ihre Websites verweisen, die neue Begriffe wie „Shit-Storm“ und Blogging verwenden, von Twitter, Google und Facebook schreiben und statt Kreuzfahrten Apps zur Hotelbuchung bewerten.

Das schafft Unsicherheit. Und ab einem bestimmten Alter und einem gewissen Bildungsgrad wird der Unsicherheit begegnet mit dem Versuch der intellektuellen Selbstvergewisserung: Wenn du nicht mehr weiterweißt, dann schreib ein Buch gegen das Internet.

Jene Unsicherheit, jenes Verlorensein, das die Migranten in den Banlieues von Paris zur Revolte trieb, das radikalen Parteien unter dem neuen und alten Prekariat zu Stimmenzuwachs verhilft – jene Unsicherheit wandeln gebildete Bedenkenträger in mit der Anmutung der Überlegenheit versehene Kulturkritik um. Besser Texte entstehen, als dass Autos brennen.

Dennoch schlage ich eine Feuerpause vor. Keine Breitseiten mehr gegen das Internet und seine Phänomene, keine fundamentale Kulturkritik an der Netzkultur, keine Vermischung von Descartes, Erkenntnissen aus den Neurowissenschaften und Bedenken an der Straßenverkehrstauglichkeit von tweetenden Teenagern.

Diese Gießkannenkritik schadet nur, weil sie eine depressive Grundstimmung atmet und keine Lösungsvorschläge bringt.

Dunkel und Furcht einflößend?

Gegen einen sensiblen Umgang mit Technologie und eine bewusstere Nutzung des Internets gerade von jüngeren Menschen kann keiner etwas einwenden; ebenso wenig gegen kritischen Medienkonsum und selbstreflektierte Mediennutzung. Das ist zu fordern; hier ist bildungspolitisch anzusetzen. Medienkompetenz ist zu begrüßen, Fundamentalkritik hingegen schießt über das Ziel hinaus.

Ben Scott, einst Berater der amerikanischen Außenministerin Hillary Clinton für Internetpolitik, sagte jüngst bei einem Vortrag in Berlin, dass in Europa das Internet zu oft als „dark and scary place“, also als dunkler und Furcht einflößender Ort wahrgenommen werde: von der Öffentlichkeit, von den Medien und von der Politik.

Das Internet hat zweifelsohne seine dunklen Seiten, aber es ermöglicht Interaktivität und Kreativität in nie da gewesenem Maße: Daher, lieber Herr Kampits, lieber Herr Spitzer, liebe Öffentlichkeit: Keine Angst. Das Internet hat seine dunklen Seiten, es befördert aber nicht die soziokulturelle Apokalypse. Die Internetgeneration ist gekommen, um zu bleiben.

Zum Autor


E-Mails an: debatte@diepresse.com

Matthias C. Kettemann (*1983 in Graz), Dr. iur., LL.M. (Harvard). Assistent am Institut für Völkerrecht der Uni Graz mit Schwerpunkt Internet-Governance und Menschenrechte in der Informationsgesellschaft. Leiter der Internet Rights and Principles Coalition. Zahlreiche Publikationen zu Sicherheit, Freiheit und Internet. Kürzlich erschienen: „Menschenrechte und Internet. Zugang, Freiheit und Kontrolle“ (Berlin 2012). [Privat]

("Die Presse", Print-Ausgabe, 11.09.2012)

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