Was an der gegenwärtigen Burn-out-Welle alles nervt

Gesellschaftliche Umbrüche, die zu einem Anstieg von Verunsicherung und auch Erkrankungen führten, gab es auch früher schon.

Die Burn-out-Epidemie hat schon wieder zwei prominente Opfer gefordert: Oberösterreichs Grünen-Chef Rudi Anschober und die Schweizer Nationalrätin Natalie Rickli müssen Auszeiten nehmen, da sie sich maßlos überarbeitet haben.

Kaum ein Tag vergeht inzwischen ohne Burn-out-Meldungen in den Medien. Regelmäßig finden Tagungen und Kongresse statt, die sich dem Thema des beruflichen Ausbrennens widmen. Eine Therapieeinrichtung nach der anderen erweitert ihr Angebot für die Heldinnen und Helden der Arbeit.

Gutmenschen wettern gegen die gierigen Neoliberalen, die am Burn-out der Ausgebeuteten schuld sein sollen. Der Bestseller-Autor und Psychiater Dr. Manfred Lütz wiederum hat in seinem soeben erschienenen Buch „Bluff“ sein „Burn-out-Burn-out“ geoutet. In wunderbar polemischer Art zeigt er auf, wie unverantwortliche Pseudo-Experten Ratgebermist produzieren und mit hochtrabend klingenden Banalitäten viel Geld kassieren. Lütz betont die psychologische Normalität von existenziellen Krisen und Erschöpfungszuständen nach entsprechenden Ereignissen, die aber mitunter belastender sein können, als so manche psychische Störung.

Geschäftemacher, Gutmenschen

Ärgerlich an der Burn-out-Welle ist nicht unbedingt, dass manche Experten ein Geschäft machen möchten. Wenn Einrichtungen hilfreiche Angebote organisieren, sollen sie ruhig viel verdienen. Es ist auch auszuhalten, wenn sich Gutmenschen mit untauglichen Aktivitäten einbringen, wenngleich die – in Anlehnung an die 1921 vom sozialkritischen Pädagogen Siegfried Bernfeld so bezeichnete – bizarre Tantenhaftigkeit, die Dankbarkeit für ihre unfruchtbare Hilfe erwartet, schon recht nervt.

Wirklich ärgerlich ist, dass sich durch das Marktgeschrei und die Betroffenheitssuderei wirklich Bedürftige mitunter nicht bemerkbar machen können und ernsthafte Überlegungen und Bemühungen von Experten zum Umgang mit Stressphänomenen kaum wahrgenommen werden. Immer wieder gab und gibt es gesellschaftliche Entwicklungen, die zu einem Anstieg von Verunsicherung und damit verbundenen Befindensbeeinträchtigungen bis hin zu Erkrankungen führten – und dazu passend gab es auch verschiedene Erklärungen und Diagnosen.

So beschrieb etwa Franz Carl Müller im Jahr 1893 im „Handbuch der Neurasthenie“ die Entwicklungen, die zu der damaligen starken Zunahme von Erkrankungen führten, mit folgenden – heutigen Beschreibungen sehr ähnlichen – Worten: „Seit bald 50 Jahren, also kurz nach den Ereignissen des Jahres 1848, ist ein ungeahnter Fortschritt auf allen Gebieten wahrnehmbar: Die Verkehrsmittel sind in einer Weise verändert, wie sie sich ein am Anfang unseres Jahrhunderts lebender Mann nie hätte träumen lassen; der Telegraph, das Telephon wurde erfunden, die allgemeine Wehrpflicht und der Schulzwang eingeführt. Wozu man früher acht Tage brauchte, das erledigt man jetzt in 24 Stunden. Kein Wunder, dass sich unser Gehirn erst daran gewöhnen muss, denn die veränderten oder vielmehr beschleunigten Lebensverhältnisse stellen eben andere Anforderungen an uns.“

Müllers Kollege, Rudolph von Hösslin, verwies im selben Buch auf weitere Ursachen, die heute ebenso im Mittelpunkt stehen: „Der Kummer, die Sorge, die Nichterfüllung gehegter Wünsche, der unbefriedigte Ehrgeiz, Kränkungen im Beruf, die Einsicht, daß die verfügbaren Arbeitsmittel den Anforderungen nicht genügen – das alles sind in der Entstehungsgeschichte der Neurasthenie häufige Gelegenheitsursachen.“

Auch Konkurrenzverhalten und Anspruchsdenken finden übereinstimmende Bewertungen: „Diese Berufsneurasthenie wird mit der Zunahme der Concurrenz und der gesteigerten Lebensansprüche immer weitere Kreise erfassen.“

Wiederkehrendes Phänomen

Es ist schon ein bedenkenswertes Phänomen, dass es immer wieder sehr verbreitete Häufungen von psychischen Erkrankungen gegeben hat, die immer auch mit kulturellen und gesellschaftlichen Umbrüchen einhergingen. Im Laufe der Zeit wurden „Krankheiten“ wie etwa Hysterie, Nervosität, Melancholie, Neurasthenie, neurotischer Ermüdungszustand, Übermüdungspsychom, Vegetative Dystonie oder Übermüdungspanik diagnostiziert.

Selbstverständlich gab es immer Abgrenzungs- und Überschneidungsdiskussionen, was einzelne Symptome oder Ursachen anlangte. Nun aber so zu tun, als ob Herbert Freudenberger, der ähnliche psychosoziale Erscheinungen mit dem neuen Begriff „Burn-out“ in den 1970er-Jahren bekannt machte, ein neuartiges Phänomen entdeckt hätte, ist schlichtweg Unsinn.

Wir befinden uns offensichtlich wieder einmal in einer gesellschaftlichen Umbruchszeit, die viele Menschen verunsichert. Hochleistungsvorstellungen und die dazugehörigen Versagensängste wuchern in allen Lebensbereichen.

Anpassungskrisen des Subjekts

Wer dann noch fürchten muss, dass der Betrieb dem globalen Wettbewerb nicht standhält, der Job verloren gehen könnte, oder sich mit bösartigen Vorgesetzten und Kollegen herumschlagen muss, ist natürlich sehr gefährdet, sich aufzureiben. Zu bedenken ist auch, dass Menschen sehr unterschiedliche Möglichkeiten besitzen, mit Belastungen umzugehen.

Unsere heutige Leistungsideologie scheint davon auszugehen, dass praktisch jeder Mensch bei entsprechender Motivation Hochleistungen erbringen kann – was natürlich Unsinn ist. Andererseits bringen selbst Kollegen untereinander vielfach kein Verständnis mehr auf, wenn es um die Integration leistungsschwächerer oder schwierigerer Menschen geht.

Mitte der 1960er-Jahre hat der Paläo-Anthropologe Rudolf Bilz zu Neurasthenie und Vegetativer Dystonie gemeint, dass es sich dabei nicht um Krankheiten handelt, sondern um Anpassungskrisen des Subjekts, aus denen allerdings Krankheiten entstehen können. Das trifft ebenso auf Burn-out zu. Die vielen Umfragen zum Thema Burn-out belegen, dass sich viele Menschen in Anpassungskrisen befinden und Unterstützung brauchen, um ihre Arbeitsplätze ihren Bedürfnissen und Möglichkeiten anpassen zu können.

Flexiblere Modelle

Dazu benötigen wir allseits bekannte Maßnahmen wie die Einführung flexiblerer Arbeitszeit- und Entlohnungsmodelle und entsprechende Unterstützung durch Fachkräfte. Neben diesen umfassenden gesellschaftlichen, politischen und betrieblichen Herausforderungen dürfen wir selbstverständlich nicht auf diejenigen vergessen, die infolge psychischer Erkrankungen nicht in der Lage sind, ihren Job in gewohnter Weise auszuüben.

Einmal mehr ist zu fordern, dass notwendige Psychotherapie von den Krankenkassen bezahlt und engagierter gegen noch immer vorhandene Stigmatisierungsprobleme – auch in der Arbeitswelt – vorgegangen wird.


E-Mails an: debatte@diepresse.com

Zum Autor

Kurt Obermülner (*15.3.1961) MAS ist Brandmeister bei der Berufsfeuerwehr Wien. Er ist Vorsitzender der Fraktion Christlicher Gewerkschafter/innen in der Gewerkschaft der Gemeindebediensteten – Kunst, Medien, Sport, freie Berufe (Landesgruppe Wien). Absolvierte Universitätslehrgang Mediation und Konfliktmanagement. [Privat]

("Die Presse", Print-Ausgabe, 26.09.2012)

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