Nachdenken über das Wunder des Guten

Trotz all unseres Wissens über uns selbst passiert es immer wieder, dass jemandem in Not die helfende Hand gereicht wird.

Zuallererst: Das Böse wie das Gute müssen „vollbracht“ werden, jemand muss es tun. Es ist nicht einfach vorhanden, liegt nicht fertig da. Die Unterscheidung zwischen Gut und Böse setzt voraus, dass es jemanden gibt, der Böses tut, obwohl er Gutes tun könnte, und jemanden, der Gutes tut, obwohl er Böses tun könnte. Sie setzt Freiheit voraus, Wahlfreiheit.

Was aber heißt: „Gutes vollbringen“? Es heißt, jemandem in echter Not helfen, einer Witwe helfen, einem Waisen helfen – helfen ohne Rücksicht auf alles, was mich betrifft. Mich selbst vergessen und jemand anderem die Hand reichen. Wie kann das gehen?

So viele strecken ihre Hände aus – wie soll ich da vergessen, was ich kann, was gut für mich ist? Wie soll ich nicht anfangen zu rechnen, abzuwägen, was sich lohnt? Diese ausgestreckten Hände warten schon auf mich, wenn ich zur Welt komme, sie sind eine Herausforderung, auf die ich antworten muss. Wenn ich es versuche – und dabei sehe, wie viele Hände es sind und wie viel sie wollen –, wird mir klar, dass ich es nicht schaffe. Dass es unmöglich ist.

So gesehen ist das „Gute“ also die Antwort auf den bereits an der Schwelle meines Lebens wartenden Appell, anderen ohne Rücksicht auf mich selbst zu helfen. Das „Böse“ indes ist meine Unfähigkeit, diesem Appell gerecht zu werden. Das Gute ist die Überwindung des Bösen, das Böse – das Scheitern dieser Anstrengung.

Verschiebung der Begriffe

Der sich ständig verschiebende Bedeutungshorizont von Begriffen, die – wie die Begriffe „Gut“ und „Böse“ – unser Leben strukturieren, wird von Geschichten, Symbolen und Metaphern gebildet, die unserem Weltbild Kohärenz und unseren Argumenten – noch vor aller Logik – Überzeugungskraft verleihen. Zu diesen Geschichten zählen in der europäischen Kultur zweifellos die Erzählungen des Alten und Neuen Testaments, darunter im Buch Genesis die Erzählung von der „Erbsünde“, von der Übertretung eines göttlichen Verbots durch die beiden ersten Menschen, die all ihre Nachkommen, auch uns, mit Schuld belud.

Eine aus intellektueller wie auch moralischer Sicht schwer zu fassende, ja skandalöse Erzählung: Welche Schuld trägt ein neugeborenes Kind daran, dass seine Urahnen vor tausenden Jahren ein göttliches Verbot übertraten?

Ursprung der Freiheit

Und doch beschäftigt diese Erzählung seit Jahrhunderten Philosophen, Theologen und Dichter, die sich immer wieder zu neuen Interpretationen herausgefordert fühlen – vielleicht, weil sie unserem moralischen Empfinden eingeschrieben ist. Man könnte sie deshalb als mythischen Ausdruck unserer Begriffe von „Gut“ und „Böse“ verstehen: als Geschichte der spezifischen, den Menschen bestimmenden Freiheit. Denn ohne die Voraussetzung der absoluten, uneingeschränkten Freiheit des Menschen zum Tun von Gutem und Bösem ergäben die Begriffe von „Gut“ und „Böse“ (in der Sprache der alttestamentarischen Erzählung: „Sünde“) keinen Sinn.

Stellt uns nicht alles, was wir über uns wissen können, was wir von uns begreifen können, in einen Rahmen – und bietet damit keine Hilfe, den Ursprung unserer Fähigkeit zu begreifen, über diesen Rahmen, diesen Kontext, diese Ordnung hinauszugehen: den Ursprung unserer Freiheit?

Wie sollen wir in all dem, was wir über uns wissen, in all dem, was wir sind, die Kraft finden, uns und was wir sind zu vergessen, uns aufzugeben, um jemand anderem in der Not ohne Rücksicht auf uns und alles andere zu helfen? Und doch geschieht es. Trotz alledem. Deshalb ist das „Gute“ ein „Wunder“: Es wäre unvernünftig, damit zu rechnen – man kann aber darauf hoffen.

Krzysztof Michalski (*8.6.1948 in Warschau) dissertierte 1974 über „Heidegger und die gegenwärtige Philosophie“. Seit 1982 Rektor des Instituts für die Wissenschaften vom Menschen (IWM) in Wien.


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("Die Presse", Print-Ausgabe, 05.10.2012)

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