Demokratie in Ägypten: Lernprozess mit Hürden

Gastkommentar. Beim erbitterten Streit über die neue ägyptische Verfassung geht es nur vordergründig um inhaltliche Differenzen.

Seit Wochen tritt in Ägypten die Bruchlinie zwischen der Muslimbruderschaft und der ägyptischen Judikative sowie der politischen Opposition immer dramatischer zutage. Die Opposition ist eine breit gefächerte Gruppe aus Liberalen, Säkularen und Anhängern des alten Regimes.

Doch es ist ein Konflikt, der nur an der Oberfläche zwischen diesen Kontrahenten besteht – ein viel tiefer liegender psychologischer Grund scheint für die Uneinigkeiten tatsächlich verantwortlich zu sein. Schon kurz nach der Revolution von 2011 wurde klar, dass ein kurzer, schmerzloser Übergang in ein demokratisches postrevolutionäres Ägypten nicht möglich sein würde. Die neu aufgeflammten Proteste und Aufmärsche in Kairo sind die naheliegenden Beweise dafür.

Hauptstreitpunkt Verfassung

In der Kontroverse zwischen Präsident Mursi und dem Obersten Verfassungsgericht rechtfertigt das Staatsoberhaupt sein Eingreifen gegen die Judikative mit pragmatischen Gründen. Während ihm die einen Machtgier und Diktatorallüren vorwerfen, behaupten andere, dass er einen holprigen, schnellen politischen Prozess einem gänzlich demokratischen, aber langwierigeren vorziehe.

Der Hauptstreitpunkt ist die neue ägyptische Verfassung, die von der sogenannten verfassungsgebenden Versammlung geschrieben wurde und die gerade der Bevölkerung zur Abstimmung vorgelegt wird. Wird die Verfassung angenommen, so sollen binnen zweier Monate neu legitimierte Parlamentswahlen abgehalten werden.

Die liberalen und säkularen Kräfte entzogen sich weitgehend diesem politischen Prozess. Die verfassungsgebende Versammlung muss sich die Kritik gefallen lassen, dass die theoretisch unabhängigen Mitglieder tatsächlich dem Lager der islamistischen Parteien zuzurechnen sind.

Ein Knackpunkt war immer die Frage nach der Rolle der islamischen Rechtsquelle, der Scharia, im Artikel 2 der Verfassung. Schon in der alten Verfassung, die 1971 unter Präsident Anwar as-Sadat eingeführt wurde, gab es nach einer Abänderung 1980 die Einführung der Scharia als „Hauptquelle der Gesetzgebung“. Dieser Passus blieb unter Mubarak unverändert und ist ebenso Teil der ganz neu geschriebenen Verfassung.

Abneigung gegen Mursi

Die Scharia darf grundsätzlich nicht als kodifiziertes Gesetzeswerk gesehen werden, sondern als eine auslegbare Rechtsethik. Aber den Kritikern der neuen Verfassung scheint es vordergründig nicht nur um den Inhalt zu gehen, sondern um die Frage, ob eine nicht repräsentative Versammlung überhaupt das Recht hat eine Verfassung zu schreiben – sei diese nun demokratisch mit islamistischen Zügen, säkular oder nicht.

Auf einer noch tieferen Ebene spielt sicherlich auch die ganz persönliche Abneigung der Opposition gegen Mursi und die Muslimbruderschaft eine Rolle. Es geht für manche also gar nicht um die Verfassung, sondern um die Person Mursi. Der Verfassungsstreit dient hier nur als Vorwand.

In Ägypten, einem Land ohne lange demokratische Tradition, ist die Vorstellung darüber, dass eine knappe Mehrheit über breite Teile der Opposition und Bevölkerung herrscht, anscheinend für viele immer noch unannehmbar.

Hindernisse und Stolpersteine

Das knappe Wahlergebnis der Präsidentschaftswahlen vom Mai 2012 offenbart jetzt die Konsequenzen. Damals siegte Mursi mit 51,7 Prozent gegen Ahmad Schafiq (48,3 Prozent).

Demokratie, wenn sie für Ägypten beansprucht wird, muss also als langsamer Lernprozess mit vielen Hindernissen und Stolpersteinen begriffen werden. Gleichgültig, wie das Ergebnis des Referendums ausfallen wird – Ägypten blickt in eine ungewisse Zukunft.

Matthias Kyska studiert Orientalistik (Arabisch und Türkisch) sowie Philosophie an der Uni Wien.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 21.12.2012)

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