„Einheitskinder“: Falsch verstandene Gleichmacherei

Erfolgreiche Schulpolitik setzt bei der jeweiligen Schule und den spezifischen Wohn- und Lebensbedingungen der jeweiligen Schüler an.

Hakan, der von Martin Schenk im „Presse“-Spectrum (29. 12. 2012) charakterisierte Neo-Wiener, der mithilfe „geschenkter Noten“ irgendwie durch die Hauptschule gekommen ist, ist eine Problemanzeige. Sie verweist auf eine Herausforderung, die die Wiener Schulbehörde seit Langem kalt lässt.

Dabei geht es nicht nur um den jungen Mann aus Margareten. Betroffen sind tausende junge Menschen – durchwegs Kinder von Erstzugewanderten –, die mit dem Durchwursteln durch die Pflichtschule nichts gewonnen haben, sondern die Rechnung unmittelbar danach bezahlen.

Wenn Lehrer die mangelhafte Leistung, die Hakan und seine Freunde im traditionellen Unterricht erbringen, gutheißen bzw. als ausreichend qualifizieren, kennen sie das Problem der (sozialen) Beschämung und die damit verbundene Bedrohung und Gefährdung des Selbst. Sie lösen es nicht, sie verschieben es bloß – und werden dabei alleingelassen.

Der Ruf nach einer generellen neuen äußeren Form der Schule bzw. Schulorganisation ist ein billiges Ablenkungsmanöver und nicht frei von menschenfeindlichen Implikationen: Das Problem der mangelhaften Hausaufgabenhilfe, das Fehlen unterstützender Lernbedingungen, das Ignorieren spezifischer soziokultureller Problemlagen stellen eine spezielle Herausforderung für manche Schulbezirke dar, aber nicht für alle.

Wiener Stadtsoziologie


Man muss über kein umfassendes Wissen über Spezifika der Wiener Stadtsoziologie verfügen, um zu erkennen, dass Kinder aus Neustift am Walde (Döbling) oder Perchtoldsdorf mit anderen Voraussetzungen in die Volksschule starten und diese auch abschließen als jene aus dem von Martin Schenk zitierten Margareten.
Die ÖVP-Bildungssprecherin Christine Marek hat daher in einem Interview in derselben Ausgabe der „Presse“ zu Recht in Abrede gestellt, dass es das „Einheitskind“ (mit dem Einheitsunterstützungsbedarf) gibt.

Die Fehler der Schulbehörde

Eine Schulbehörde, die immer noch von solchen Einheitskindern ausgeht, macht mehrere Fehler gleichzeitig. Sie lässt viele Familien allein und schafft damit den Nährboden für Demütigungs- und Benachteiligungserfahrung. Sie verschwendet Humanressourcen und Geldmittel, wenn sie jede Art von Förderung für alle Schüler entwirft und verpflichtend ansetzt (oder unterlässt) – und damit einem falsch verstandenen Gleichheits- und Gleichmachergebot folgt.
Was erfolgreiche Schulen und folglich Gesellschaften auszeichnet, ist nicht die „Einheitsschule“ mit Einheitsunterricht, sondern die entsprechende Förderung und Unterstützung für die jeweiligen Schüler – unter Berücksichtigung der Umgebungsbedingungen.
„No child left behind“ – diesem Prinzip haben sich US-Pädagogen und Schulpolitiker auf der Basis von ausreichender Kenntnis bezüglich multikultureller Schülerherkünfte verpflichtet. Die wissenschaftlich gestützten Anstrengungen zeigen Erfolge. Im Zentrum steht die jeweilige Schule (eingebettet in spezifische Wohn- und Lebensbedingungen) mit den jeweiligen Schülern, an denen sich die notwendige Förderung und Unterstützung orientieren.

Ebenso wichtig ist es, in der Schulpolitik/Schulverwaltung anzusetzen und den Schulleitungen jene Möglichkeiten und Mittel in die Hand zu geben, die sie zur Erfüllung dieser Aufgaben benötigen. In spezifischen Leistungsvereinbarungen sind sie verbindlich zu benennen und zu budgetieren. Es gibt übrigens keinen ernsthaften wissenschaftlichen Beleg für eine allfällige gegenteilige Position.

Dr. Gertrude Brinek ist Ass.-Prof. an der Uni Wien/Bildungswissenschaft, seit 2008 Volksanwältin.


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