Stimmen aus Europa, die Russland hören sollte

Gastkommentar. Mit einer Reihe umstrittener Gesetze zu gesellschaftspolitischen Themen will die Staatsduma das Rad der Zeit zurückdrehen.

Womöglich sind die umstrittenen Gesetzesinitiativen, mit denen das russische Parlament derzeit immer wieder international Schlagzeilen macht, zynische innenpolitische Ablenkungsmanöver, meinen manche Beobachter. Die fragwürdigen Einschränkungen von Grundfreiheiten, die bereits 2012 eine bedrohliche Dynamik erlangt haben, gehen aber munter weiter. Gerade in Kombination mit willfährigen Gerichten entstehen so neue Möglichkeiten für politisch motivierte Strafverfolgung.

Die Staatsduma will dabei ihrem Ruf treu bleiben: In der Pipeline befindet sich ein Gesetz, das mehrjährige Haft für bisher nicht genauer definiertes „Beleidigen von religiösen Überzeugungen und Gefühlen“ ermöglichen soll. Parallel wird diskutiert, ob gleichzeitig nicht auch „patriotische Gefühle“ unter den Schutz des Strafrechtes gestellt werden sollen.

„Übel Homosexualität“

Bereits am vergangenen Freitag stimmten 388 Parlamentarier in der ersten von drei Lesungen für die Einführung von Verwaltungsstrafen für „Propaganda von Homosexualismus unter Minderjährigen“; es gab eine Gegenstimme und eine Stimmenthaltung. Draußen auf der Straße wurden Protestierende von rechten Schlägertruppen attackiert.

Im Gebäude erklärte die einflussreiche Abgeordnete Tatjana Moskalkowa („Gerechtes Russland“) gegenüber der „Nowaja Gaseta“, dass die Entkriminalisierung von Homosexualität in Russland (im Jahr 1993, Anm.) verfrüht gewesen sei: „Dieses Verbot hat die russische Gesellschaft moralisch zusammengehalten. Deshalb ist dieses Übel auch später als im Westen zu uns gekommen.“

Mit Argumenten ist Moskalkowa und ihren Kollegen nicht beizukommen. Dennoch wären gerade jetzt Stimmen aus der EU wichtiger denn je. Vor allem, um einer diesbezüglich sehr aufmerksamen Zivilgesellschaft in Russland deutlich zu machen, dass sich die europäische Integration eben nicht nur um Binnenmärkte, Haushaltskonsolidierung und Eurokrisen dreht; und um zu kommunizieren, dass Menschenrechte in Europa weiterhin eine zentrale Rolle spielen müssen.

Experimentierfeld St. Petersburg

Selbst realpolitisch unbedeutende Signale können diesbezüglich für massive Resonanz sorgen, das zeigt etwa das Beispiel St. Petersburg.

Die „russische Kulturhauptstadt“ avanciert unter Gouverneur Georgi Poltawtschenko, einem russisch-orthodoxen KGBler, zum Experimentierfeld für reaktionäre Entwicklungen: Rechtsextremisten verhindern die Aufführung einer Inszenierung von Nabokovs „Lolita“, die staatliche Eremitage muss sich wegen einer Ausstellung der renommierten Chapman-Brüder aus Großbritannien mit strafrechtlich relevanten Extremismusvorwürfen abquälen, und „homosexuelle Propaganda“ wird hier bereits seit Frühjahr 2012 geahndet.

Letzteres sorgte auch in der St.Petersburger Partnerstadt Mailand für Proteste: Der Mailänder Gemeinderat beschloss im November, die Städtepartnerschaft einzufrieren, und generierte ein massives russisches Medienecho.

Offizielle Vertreter Österreichs schweigen hingegen – wie immer. Abgesehen vom Außenministerium gilt dieser Vorwurf gerade auch für Graz, das seit 2001 mit St. Petersburg verpartnert ist.

Grazer Bürgermeister schweigt

Noch vor der Mailänder Entscheidung hat nämlich eine Grazer Gemeinderatsmehrheit Bürgermeister Siegfried Nagl (ÖVP) aufgefordert, einen Appell an die Partnerstadt zu richten. Passiert ist bislang nichts. Dies, obwohl Nagl und Co. in Sonntagsreden doch so gern den Status der steirischen Landeshauptstadt als „Menschenrechtsstadt“ betonen.

Herwig G. Höller ist Lehrbeauftragter am Slawistik-Institut der Uni Graz und arbeitet für diverse in- und ausländische Zeitungen als investigativer Journalist.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 29.01.2013)

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