Jedes Jubiläum ein Stresstest: Die Anstrengung sieht man nicht

Medien feiern sich gern bis zum Umfallen. Manchmal kommt Gutes heraus, etwa die bisher beste Jubiläumsausgabe der „Presse am Sonntag“.


Vier Jahre alt ist „Die Presse am Sonntag“ geworden, und die Festausgabe vom 24. März 2013 liegt schon vier Wochen auf meiner Ablage. Doch die „Spiegelschrift“ kann nicht einfach sagen: „Schnee von gestern.“
Das Monsterunternehmen, 80 Druckseiten größtenteils mit Beiträgen von Gastautoren und unter der Leitung der weltbekannten Opernsängerin Angelika Kirchschlager als Leihchefredakteurin zu füllen, muss gewürdigt werden. Das ist eine Spitzenleistung, wie viele Leser auch anerkennen.
Mit dem von Kirchschlager ausgegebenen Motto „Ruhe“ lässt sich in heutiger Zeit Furore machen – Ruhe geht uns ab. Ich weiß nicht, ob es die Leser überhaupt bemerkt haben: Es gibt in dieser Ausgabe (mit Ausnahme in bezahlten Inseraten) keine Farbfotos. Schwarz-Weiß bedeutet Ruhe. Die Farbe geht uns offenbar gar nicht ab, zumindest nicht immer.
In der Jubiläumsausgabe liegt der Wert der vielen und gut gegliederten Momentaufnahmen unserer Wirklichkeit auch darin, dass sie den Eindruck machen, sie seien in aller Ruhe zustande gekommen, ohne Tamtam und Salto mortale und sogar mit Witz und Humor. Wer das glaubt, irrt. Es muss eine richtige Plackerei gewesen sein, die Manuskripte von Künstlern, Physikern, Kabarettisten, Politikern, Sportlern, Bankdirektoren pünktlich zum Redaktionsschluss druckreif herbeizuzwingen.

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Nach dem Fest herrscht Alltag, manchmal fehlt etwas zum vollen Glück. Der Rechnungshofbericht über die Finanzgebarung des Bundeslandes Salzburg wird selbstverständlich verlautbart und in zwei oder drei Absätzen erläutert. Aber mehr davon wäre noch schöner – er liest sich wie ein Kriminalroman. Dieser – zweifelhafte – Genuss wird den Lesern vorenthalten.

Die Eröffnung des Flughafens von Doha verzögert sich (2. 4.). Könnte die Zeitung nicht so freundlich sein zu erwähnen, dass Doha die Hauptstadt von Katar ist, oder stellt sie Quizfragen?

Wolfgang Schultz, der „Zauberflötist“, ist gestorben (30. 3.). Zu einer Todesmeldung gehört nicht nur die Würdigung der Person, sondern zunächst einmal die Angabe des Alters des Verstorbenen. Man sucht es vergeblich.

Die Zypern-Krise beschäftigt uns schon seit Wochen, aber noch immer purzeln in der Zeitung „Zyprer“ und „Zyprioten“ durcheinander, sogar in der kurzen Zusammenfassung „Banken überstanden den ersten Tag der Öffnung“ (29. 3.). Keine der beiden Bezeichnungen ist falsch, aber irgendwann wird sich die Zeitung festlegen müssen und vielleicht in einem kleinen Lexikon ihre Entscheidung erläutern. Manche Leser sind an den Begriff „Zyprioten“ gewöhnt und verunsichert.
Zumindest in der spätabends gedruckten Wiener Ausgabe wäre die Seite eins der richtige Platz für „Bomben gegen Boston-Marathon“ (16. 4.). Immerhin gibt es zu dem Zeitpunkt bereits Todesmeldungen und Fotos sowie Indizien, dass mehr dahintersteckt als bloß eine üble Knallerei. Aber der Artikel wird auf Seite vier verbannt.

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Die Visualisierung statistischer Zusammenhänge ist äußerst sinnvoll, sofern das Datenmaterial richtig abgebildet wird. Leider gibt es dabei wiederholt Probleme, so etwa im Aufmacher „Ausländische Studenten als Belastung“ (2. 4.). Nach Herkunftsländern sortiert ergeben die studierenden Gäste eine Gesamtmenge von 103 Prozent, wobei „Sonstige“ noch gar nicht mitgerechnet sind. Somit stimmen natürlich auch die restlichen Werte in dieser Grafik nicht.

Wenn Interviewpartner sachlich falsche Behauptungen aufstellen, sind Anführungszeichen keine Entschuldigung dafür, dass solche Aussagen widerstandslos abgedruckt werden. Österreich ist nicht „das erste reiche Land“ an der Grenze zu östlichen EU-Staaten (27. 3.). Deutschland grenzt an Tschechien und Polen und ist auch nicht arm.

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Regelmäßiges „Presse“-Lesen hat verjüngende Wirkung. Warum? Weil Leser die schleichende Veränderung der Sprache unbewusst aufnehmen – das ist gar nicht ironisch und im Sinn von „Sprachverfall“ gemeint. Wir sind Geschäftspartner der geheimnisvollen Evolution, von der im Wissenschaftsressort so oft die Rede ist.
Warum „selbstständig“ seit einigen Jahren mit zwei „st“ geschrieben wird, ist bloß eine Festlegung der jüngsten Rechtschreibreform und deshalb leicht zu verteidigen. Viel dunkler ist die Sprachentwicklung, wenn Wörter wie „wobei“, „obwohl“ oder „weil“, die mir immer als verbindende Teile flüssiger Sätze erschienen sind, vor allem von jungen Journalisten und bevorzugt in Glossenelementen neuartig eingesetzt werden. Zum Beispiel: „Wobei, man fragt sich auch . . .“
Siehe da, der Duden, in dem Fall der dickleibige Grammatik-Duden, ist meiner Zeit wieder einmal voraus und erwähnt die Möglichkeit einer der gesprochenen Sprache angepassten „Parakonjunktion“ nach dem Muster: „Er friert entsetzlich, obwohl: So kalt ist es gar nicht.“ Derartige Wendungen dürften „Presse“-Lesern allzu bekannt sein. Wobei, wenn sie gehäuft auftreten, wirken sie modisch gekünstelt.

Irgendwann hat die Anpassung an die gesprochene Sprache ein Ende. Dass die Wiener Buslinie 2A einen „Michaelaplatz“ passiert, kann nicht sein (12. 4.). Die Michaeler-Kirche ist nicht einer hl. Michaela gewidmet, sondern dem Erzengel Michael.
Im „Karriere“-Artikel „Nur wer nichts zu verlieren hat, poltert“ (6. 4.) steht im ersten Satz, dass Manager bei ihrem Abschied vom Unternehmen „lieber aus dem Herzen eine Mördergruppe“ machen. Nein, das ist eine „Mördergrube“. Genaueres dazu beim Propheten Jeremias.
Manchmal verrät die Anpassung an die gesprochene Sprache, wohin sich die Zeitung zu orientieren scheint. Steht in der „Presse am Sonntag“ „Wenn man das einmal spielt, ist es rational, den anderen zu bescheißen“ (14. 4.), – dann könnte daraus jemand schließen, die Fäkalsprache sei bereits salonfähig.

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Geradezu aufregend ist das Service für „Presse“-Leser bei der Umstellung auf Sommerzeit. Am Samstag vor der Nacht der Nächte befasst sich die Zeitung gleich an drei Stellen mit dieser Herausforderung. Am interessantesten findet sie die Frage, ob die Uhr um eine Stunde vor- oder zurückgestellt werden müsse, denn, schreibt sie, die Leute kennen sich nicht aus. Sie beantwortet die Frage aber nie direkt, so, als ob ihr die Sache peinlich wäre. Unter „Umstellung auf Sommerzeit“ heißt es: „Die Uhren müssen wieder auf Sommerzeit (MESZ) umgestellt werden: diesmal am Ostersonntag (31. März, zwei Uhr MEZ).“ Sie hätte auch schreiben können: Schmecks! Sollte aus dem Grund jemand bis zwei Uhr früh keinen Schlaf gefunden haben, so erlöst ihn wenigstens im Morgengrauen „Die Presse am Sonntag“, denn jetzt hat sie's: „Am Sonntag um zwei wurden die Uhren um eine Stunde vorgestellt.“ Hoffentlich auch in der Redaktion.

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