Das Recht zu lügen oder: Warum die Umerziehung zu weit geht

VIDEOUeBERWACHUNG FUeR SCHUTZWEG IN WIEN
VIDEOUeBERWACHUNG FUeR SCHUTZWEG IN WIENAPA/HERBERT PFARRHOFER
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Der Staat verbietet seinen Bürgern das Lügen, die Überwachung greift um sich. Ein Appell, den Menschen zu nehmen, wie er ist.

Wien. Für Katholiken und Lutheraner ist es das achte, für Juden und Orthodoxe das neunte Gebot: Du sollst nicht lügen. Für den Staat scheint es neben dem Stillhalte- und dem Steuergebot das Wichtigste zu sein: Bürger, sag die Wahrheit. Sag, wo dein Geld ist. Sag, mit wem du verkehrst. Sag, wer dein Auto benützt hat. Von der Steuererklärung über diverse Erhebungsbögen bis zur Lenkerauskunft haben wir stets die Wahrheit zu sagen.

Da wir aber auf dem Weg der Umerziehung zum guten neuen Menschen noch etwas nachhinken, bedarf es des Überwachungsstaates. Auf der Autobahn und auf frequentierten öffentlichen Plätzen überwachen uns Videokameras, unser Telefon- und Mail-Verkehr wird ein halbes Jahr gespeichert, und auch unsere Konten sollen demnächst nicht mehr durch das Bankgeheimnis geschützt werden.

Transparenz lautet die Forderung all jener, für die das Verbrechen immer und überall präsent ist. Schließt die Schlupflöcher, so die Forderung der Tugendwächter.

Kronzeugen und Whistleblower

Lügen wird verpönt, als gäbe es George Orwells („1984“) fiktives Ministerium für Wahrheit wirklich. In dieser Welt, die jeder ordentliche Mensch durch die Brille des Staatsanwalts zu sehen scheint, liebt man die Privatsphäre nicht mehr. Kronzeugen und Whistleblower heißen die Helden der Vernaderungsgesellschaft. Selbst der Rechtsanwalt soll abseits der Verschwiegenheitspflicht seinen eigenen Klienten verraten müssen, wenn er den Verdacht hat, es könnte sich um Geldwäscherei handeln. Bei Kinderschänderei besteht eine solche Pflicht nicht. Ein Schlupfloch?

Noch gibt es allerdings Bereiche, in denen das Persönlichkeitsrecht vorgeht. So gibt es im Strafrecht ein Recht des Angeklagten zu lügen. In einem zivilisierten Staat muss sich niemand selbst beschuldigen, allerdings stellt ein reumütiges Geständnis einen wesentlichen Milderungsgrund dar. Die Grenze findet das Lügerecht des Angeklagten dort, wo ein anderer fälschlich der Straftat bezichtigt wird – also in der Strafbarkeit der Verleumdung. Die Pflicht zur Selbstbeschuldigung ist ein Kennzeichen totalitärer Staaten, denen die konsequente Ächtung der Folter auf der Suche nach der materiellen Wahrheit fremd ist.

Selbst im Zivilprozess ist der Maßstab der Wahrheitspflicht für die Partei niedriger angesetzt. Nur die beeidete Falschaussage der Partei steht unter Strafe, während ein Zeuge für jede Falschaussage gerichtlich bestraft werden kann.

Geradezu einen Systembruch bemerken wir im Arbeitsrecht, wenn dem Arbeitssuchenden die Lüge bei der Vertragsanbahnung rechtlich erlaubt wird. Auf Fragen hinsichtlich Vorstrafen, Schwangerschaft oder Behinderung darf ungeniert gelogen werden, ohne dass dies irgendwelche Folgen haben könnte. Dieses Recht zu lügen stellt einen bedenklichen Eingriff in die Privatautonomie des Vertragspartners dar und ist dogmatisch nur mit einer guten Portion Dialektik zu begründen.

Ein eigenes Kapitel ist schließlich das Gleichbehandlungsgesetz, das mit seinen Diskriminierungsverboten geradezu eine permanente Aufforderung zur Lüge darstellt. Wegen des Geschlechts, des Alters, der ethischen Herkunft etc. darf kein Arbeitgeber eine Anstellung verwehren. Wer also beispielsweise einen Tschetschenen wegen seiner Herkunft nicht anstellen möchte, darf dies nicht – zumindest wird er es niemals laut sagen. Kein Arbeitgeber, der seine fünf Sinne beisammen hat, wird sich im Fall des Nichtkontrahierens auf die im Gesetz genannten Diskriminierungsgründe berufen. Immer wird er sachliche Gründe angeben – mögen sie stimmen oder nicht. Selbst bei Beendigung des Dienstverhältnisses muss der Arbeitgeber oft einen Bogen um die Wahrheit machen: Negatives darf im Dienstzeugnis nicht stehen.

Als bemerkenswertes Zwischenergebnis aus dem Arbeitsrecht ist daher festzuhalten: Der Klassenfeind darf angelogen werden; er selbst muss sich politisch korrekt verhalten und wird doch vom Gesetz zur Lüge erzogen.

Wenn der Staat seinen Bürgern das Lügen nun zunehmend verbietet, könnte man auf die Idee kommen, das Arbeitsrecht an den Zeitgeist anzupassen. Vielleicht aber wäre es auch an der Zeit, dem Zeitgeist entgegenzutreten, wenn dieser strengere Maßstäbe anlegt, als die Bürger in ihren privaten Beziehungen sich selbst zumuten. Wer etwa Menschen bei der (Internet-)Partnersuche genauer auf den Zahn fühlt, weiß sofort: Die Lüge gehört zum Alltag unseres Zusammenlebens – wie mächtig unser imaginäres Ministerium für Wahrheit auch sein mag.

Nie darf sich der Gesetzgeber von den Moralvorstellungen seiner Bürger zu weit entfernen, will er nicht scheitern. Dies gilt auch für die Pflicht, die Wahrheit zu sagen, die in einer liberalen Rechtsordnung keine absolute Höchstnorm darstellt. Wer davon enttäuscht ist, sei daran erinnert, dass auch der Gesetzgeber an der menschlichen Natur nicht vorbeikann. In aller Bescheidenheit kann auch er keine fantastische Idealwelt erschaffen, sondern hat vom Menschen – so wie er ist – auszugehen. Dass man den Menschen nehmen muss, wie er ist – mit seinen Stärken und Schwächen – ist übrigens keine Wahrheit, sondern eine Kunst.

Dr. Vetter ist Rechtsanwalt in Wien.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 13.05.2013)

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