Umstrittene Urteile aus Straßburg, die angeblich hehre Ideale von einst untergraben - eine Replik

Sosehr ich Rudolf Taschner pointierte Kommentare in der „Presse“ schätze, dürfen seine Ausführungen vom 16. Mai über eine angeblich bedenkliche Entwicklungen im europäischen Menschenrechtsschutz aus völkerrechtlicher und menschenrechtlicher Sicht nicht unwidersprochen bleiben.

Sosehr ich Rudolf Taschner pointierte Kommentare in der „Presse" schätze, dürfen seine Ausführungen vom 16. Mai über eine angeblich bedenkliche Entwicklungen im europäischen Menschenrechtsschutz aus völkerrechtlicher und menschenrechtlicher Sicht nicht unwidersprochen bleiben.

Taschner beanstandet darin unter Bezugnahme auf den ehemaligen Schweizer Bundesrichter Martin Schubarth eine aus seiner Sicht zu große Kontrolltiefe durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EuGHM). Dieser Gerichtshof sei als Reaktion auf die mörderische Hitler-Diktatur geschaffen worden und beschäftige sich nunmehr vergleichsweise mit Bagatellfällen, wie dem Namensrecht. Es sei „ein ziemlich langer Weg von den hehren Zielen, Verbrecherstaaten zu verhindern" hin zu diesem aktuellen Betätigungsfeld des Gerichtshof. In diesem Zusammenhang ortet der Autor eine „innere Widersprüchlichkeit einer überstaatlichen Gerichtsbarkeit", die den Souveränitätsgrundsatz unterlaufe. Das Ergebnis seien „umstrittene Urteile, erlassen von vom eigenen Staat nicht befugten Richtern."

Aussagen dieser Art stellen den modernen Menschenrechtsschutz in Europa, ja die Grundkonzeption des geltenden Völkerrechts in Frage. Sie beruhen einmal auf einer Fehleinschätzung der Rechtsprechungsentwicklung. Ganz grundsätzlich ist der EuGHM nicht dazu geschaffen worden, Verbrechen wie Völkermord zu ahnden, sondern die gesellschaftliche Realität in den Konventionsstaaten in möglichst breiter Form vom Gedanken des Menschenrechtsschutzes zu durchwirken. Dabei hat der EuGHM sehr wohl Rücksicht genommen auf souveräne Belange der Vertragsparteien, wobei dies nach Auffassung vieler zumindest in den ersten Jahrzehnten seiner Tätigkeit in einer allzu weitreichenden Form geschehen ist. Der Gerichtshof (bzw. in der Vergangenheit auch die Menschenrechtskommission) waren aber stets darauf bedacht, den schwierigen Balanceakt zwischen Achtung der Souveränität der Konventionsstaaten und notwendiger Intervention zu meistern. Der Ermessensspielraum, der „margin of appreciation", der den Konventionsstaaten bei der Auslegung und der Anwendung der EMRK eingeräumt worden ist, ist international zum Referenzterminus für die Achtung nationaler Souveränität bei der Anwendung menschenrechtlicher Verpflichtungen geworden. Ganz allgemein ist die Grundrechtssensibilität in Europa seit 1950 kontinuierlich geschärft worden und dies hat auch zu einer Einengung dieses Ermessensspielraums geführt. Ist bspw. das zitierte Namensrecht vor wenigen Jahren noch anstandslos dem nationalen souveränen Gestalten überantwortet gewesen, so ist mittlerweile erkannt worden, dass dieser Bereich eng mit der persönlichen Identität und dem Schutz von Sprache und Kultur, insbesondere von Minderheiten und Migranten, verbunden ist. Die Schärfung des menschenrechtlichen Schutzfocus durch den EuGHM war begleitet von einer weltweiten Verdichtung des Menschenrechtsschutzes mit einer kontinuierlichen Zunahme an Schutzinstrumenten und Überwachungsgremien. Die Ergebnisse dieses Prozesses möchten wohl nur die wenigsten missen. Die Wirksamkeit dieser Instrumente hing in geradezu elementarer Form von der Einrichtung internationaler Gerichte und Kontrollinstanzen ab. Sollten wir diesen die Legitimität versagen, nur weil sie im internationalen und nicht im staatlichen Bereich operieren? Damit würde der internationale Menschenrechtsschutz, so wie er seit 1945 konzipiert worden ist, überhaupt in Frage gestellt werden, ja es wäre dann auch die Legitimität des EuGH in Luxemburg und jene des IGH in Den Haag in Frage zu stellen.

Ob die Staatstheorie von Thomas Hobbes tatsächlich nach wie vor die einzig konsistente sei, wie Rudolf Taschner behauptet, kann ebenfalls hinterfragt werden, insbesondere wenn dadurch die Übernahme des Souveränitätsdenkens des 17. Jahrhunderts einhergehen sollte. Der Ständige Internationale Gerichtshof hat schon im Jahr 1923 festgehalten, dass der Begriff der „innerstaatlichen Angelegenheit" stets ein relativer sein müsse, der von den Gegebenheiten der Zeit abhängig zu machen sei. Die stärkste und die entscheidende Limitierung erfährt das Souveränitätskonzept der Gegenwart sicherlich durch den internationalen Menschenrechtsschutz. Und in einer sich kontinuierlich weiter harmonisierenden Wertegemeinschaft gerade im grundrechtlichen Bereich kann und soll dies auch implizieren, dass „ein Richter aus Zypern" über die menschenrechtlichen Anliegen eines „Bürgers aus Schweden" (mit)entscheiden kann. Es ist dies eine Entwicklung, die uns den Idealen von einst entscheidend näher bringt.

Zum Autor

Prof. Peter Hilpold studierte Rechtswissenschaft, Volks- und Betriebswirtschaft. Anwalts- ausbildung in Italien. Er lehrt Völkerrecht, Europarecht und Vergleichendes Öffentliches Recht an der Universität Innsbruck. Zuletzt erschien 2012 in Leiden der von ihm herausgegebene Band "Kosovo and International Law".

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