Die Depression als europäisches Großprojekt

Seit den 1970er-Jahren hat die Umgestaltung des Marktsystems nach neoliberalen Leitlinien von der Realwirtschaft auf Finanzalchemie eingesetzt. Finanzkapitalistische Spielanordnungen aber tendieren zur Selbstzerstörung.

Ökonomische Depressionen sind nichts Ungewöhnliches. Weitverbreitet war jene nach dem Börsenkrach von 1873, besonders ausgeprägt fiel die Weltwirtschaftskrise der 1930erJahre aus. Was waren die gemeinsamen Merkmale dieser beiden Depressionen?

•Erstens: Eine finanzkapitalistische Grundstimmung – „Lassen wir unser Geld arbeiten!“ – lässt die Aktienmärkte boomen.

•Zweitens: Ein Börsenkrach entwertet Aktien und andere Finanztitel, gleichzeitig sinken auch die Rohstoff- und Immobilienpreise.

•Drittens: Die massive Vermögensentwertung führt zum Einbruch der Investitions- und Konsumnachfrage und damit der Realwirtschaft.

•Viertens: Der Finanzsektor schlittert immer tiefer in die Krise, Bankenpleiten breiten sich aus.

•Fünftens: Auf den Anstieg des Budgetdefizits reagiert der Staat mit einer Sparpolitik, welche den Schrumpfungsprozess verstärkt.

•Sechstens: Die Arbeitslosigkeit wird durch Senkung von Löhnen und Arbeitslosengeld bekämpft, was die Nachfrage weiter sinken lässt.

•Siebtens: Das Preisniveau fällt, die Deflation erhöht die reale Last von Schulden, die Investitionsnachfrage wird dadurch weiter gedämpft.

•Achtens: Es dominiert die marktliberale Wirtschaftstheorie (laissez faire). Als „Navigationskarte“ der Eliten koordiniert sie das Verhalten von Politik, Unternehmen und Haushalten in einer Weise, welche das Gesamtsystem entlang einer Abwärtsspirale immer tiefer in die Depression schlittern lässt.

•Neuntens: Nach dem Motto „Rette sich, wer kann“ versuchen die einzelnen Länder, ihre Lage durch protektionistische Maßnahmen zu verbessern.

•Zehntens: Die Eliten bemerken nicht, dass die Wirtschaft auf eine Depression zusteuert.

Die Entwicklung der letzten Jahre in Europa weist nahezu alle diese Merkmale auf, von der gleichzeitigen Vermögensentwertung 2008 über die Sparpolitik, die Lohn- und Sozialkürzungen in Südeuropa bis zum Schrumpfungsprozess entlang einer Abwärtsspirale, der nun langsam auch die „guten Nordländer“ erfasst. Und schließlich: Man verspricht seit zwei Jahren einen Aufschwung, von Depression sprechen die Eliten nicht.

Groteske Entwicklungen

Wer sich an einer bestimmten Navigationskarte orientiert, kann die Karte selbst nicht als Hauptursache einer Krise begreifen. Er wird vielmehr die unzureichende Umsetzung der „Strukturreformen“ für die Lage verantwortlich machen. Also wird „more of the same“ verordnet: Nach dem Fiskalpakt soll nun ein „Pakt für Wettbewerbsfähigkeit“ Kündigungsschutz und Tarifvertrag in der EU eliminieren.

Das Verharren der Eliten in der etablierten Weltanschauung ist bemerkenswert, die Fundamentalaussagen ihrer Theorie werden ja von der Empirie geradezu desavouiert: Je mehr gespart wird, desto stärker steigt die Staatsverschuldung (Rangfolge: Griechenland, Spanien, Portugal, Großbritannien), je mehr Löhne und Arbeitslosengelder gesenkt werden, desto stärker steigt die Arbeitslosigkeit.

Dazu kommt die fast groteske Entwicklung der Aktienkurse: Ihr Boom beschleunigte sich gleichzeitig mit der Talfahrt der Realwirtschaft. Dazu kommt die Vernachlässigung historischer Erfahrungen. So sieht man auch nicht: Von den zehn für eine Depression typischen Merkmalen sind acht in der europäischen Wirtschaft bereits realisiert.

Für eine vollkommene Depression fehlt dann nur mehr ein Wirtschaftskrieg zwischen den EU-Ländern. Und dieser wird sich einstellen, wenn es zu einer Auflösung der Währungsunion kommt.

Der Grund dafür ist einfach: Im Zuge des Finanzbooms der vergangenen Jahrzehnte und gefördert durch die wachsenden Leistungsbilanzungleichgewichte wurde ein gewaltiger Berg von Finanzforderungen und -verbindlichkeiten zwischen Euroländern aufgebaut, und diese notieren in Euro. Deutschland und andere „Nordstaaten“ sind Nettogläubiger, die „Südstaaten“ einschließlich Frankreich sind Nettoschuldner.

Unlösbarer Konflikt

Im Fall einer Rückabwicklung des Euro in nationale Währungen ergibt sich der unlösbare Konflikt: In welche Währung werden denn die Forderungen/Verbindlichkeiten transformiert? Schuldner und Gläubiger werden jeweils auf ihrer nationalen Währung bestehen, durchsetzen werden sich die Schuldner.

Dann verbleiben zwei Möglichkeiten. Entweder es kommt durch Kettenreaktionen, die kein Rettungsschirm aufhalten kann, zu einer generellen Finanzschmelze, oder die Schuldnerländer werten ihre Währungen massiv ab und damit auch ihre Auslandsschulden. Zusätzlich werden mit dem Verschwinden der EZB auch die Target2-Forderungen Deutschlands gegenüber der EZB verschwinden.

Solche Finanzschmelzen stellen normale Komponenten einer Depression dar, moderne Ökonomen wissen das aber nicht: Die Gesetze der neoliberalen Theorie gelten ja jenseits von Raum und Zeit, historisches Wissen ist daher unnötiger Ballast.

Die Abwertungen der „Südstaaten“ werden die Forderungen der „Nordstaaten“ entwerten, sie werden aber keinesfalls die Lage der Realwirtschaft in den Krisenländern verbessern. Dies haben die „Südstaaten“ schon zwischen 1973 und 1999 mit größtem Misserfolg probiert. In einer Depression führen Abwertungswettläufe sogar zu einer massiven Vertiefung der Krise, wie die 1930er-Jahre eindrucksvoll zeigten.

Wechsel in der Spielanordnung

Die Spielanordnung „im Ganzen“ produzierte die Krise: Seit den 1970er-Jahren hat die Umgestaltung des Marktsystems nach neoliberalen Leitlinien die kapitalistische „Kernenergie“, das Profitstreben, von der Realwirtschaft auf Finanzalchemie aller Art verlagert.

Dieser Systemwechsel dämpfte die Realkapitalbildung und damit die Schaffung von Arbeitsplätzen. Der Finanzierungssaldo der Unternehmen drehte sich von einem Defizit in einen Überschuss, jener des Staates ist (daher) permanent negativ; zusätzlich verstärkte ein über der Wachstumsrate liegender Zinssatz den Anstieg der Staatsschuld (bis Ende der 1970er-Jahre hatten die Notenbanken den Zins unter der Wachstumsrate stabilisiert).

Finanzkapitalistische Spielanordnungen haben sich in der Wirtschaftsgeschichte regelmäßig selbst zerstört: Es werden immer mehr Finanzvermögen geschaffen, die keine reale Deckung haben (Geld arbeitet leider nicht). Die höchste Form dieses „fiktiven Kapitals“ (Karl Marx) ist die Staatsschuld. Mit der sich seit 2008 vertiefenden Krise hat die Selbstzerstörung des Finanzkapitalismus voll eingesetzt.

Zum Autor


E-Mails an: debatte@diepresse.comStephan Schulmeister(*26. 8. 1947) studierte Rechts- und Wirtschaftswissenschaften an der Uni Wien. Er war von 1972 bis 2012 wissenschaftlicher Mitarbeiter im österreichischen Wirtschaftsforschungsinstitut (Wifo). Schwerpunkte u. a.: Finanzmärkte und internationaler Handel. Forschungsaufenthalte am Bologna Center der John Hopkins University, an der New York University und am Wissenschaftszentrum Berlin. [Fabry]

("Die Presse", Print-Ausgabe, 10.07.2013)

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