Zur Krise der Geisteswissenschaften

Ist mehr Mathematik wirklich die Lösung für die kriselnden Geisteswissenschaften? Das kann nur eine Drohung sein.

Es ist kaum zu leugnen, dass sich die Geisteswissenschaften in einer Krise befinden. Einerseits sehen sie sich mit einem Legitimitätsproblem konfrontiert, und andererseits fällt ihre Finanzierung immer dürftiger aus. Wie keine anderen Disziplinen sind jene der Geistes- und Kulturwissenschaften auf öffentliche Gelder angewiesen, die in Zeiten klammer staatlicher Budgets immer spärlicher fließen. Wie sehr an ihnen gespart werden kann, sieht man in Großbritannien, wo die radikale Kürzung der Ausgaben für die Universitäten die Geisteswissenschaften bisweilen in eine Existenzkrise geführt hat. In den USA wiederum gibt es teilweise dramatisch sinkende Studierendenzahlen in diesen Fächern. Ein geisteswissenschaftliches Studium gilt als Luxus, mit dem man den täglichen Lebensunterhalt kaum bestreiten kann.

Aber verheißen diese Trends tatsächlich, dass die Geisteswissenschaften in den nächsten Jahrzehnten gänzlich verschwinden werden, wie Rudolf Taschner in der „Presse“ vom 25.7.2013 anklingen lässt? Und hängt der augenfällige gesellschaftliche Bedeutungsverlust der Geisteswissenschaften wirklich damit zusammen, dass sie sich mit Themen auseinandersetzen, die für die Gesellschaft bestenfalls von untergeordneter Relevanz sind? Mit anderen Worten: Sollen sie sich, wie von Taschner gefordert, mehr mit der Mathematik verbinden?

Eine öffentliche Debatte über bestimmte Forschungsthemen hat wenig Sinn: Sofern die Ergebnisse wissenschaftlichen Arbeitens nur über Umwege im gesellschaftlichen Alltag Anwendung finden, ist deren Bedeutung einer nur mäßig an Wissenschaft interessierten Bevölkerung schwer vermittelbar. Das gilt sowohl für die Geistes- als auch für die Naturwissenschaften, nicht zuletzt für die Mathematik.

Trotzdem muss ein Bezug der geisteswissenschaftlichen Forschungen zur gesellschaftlichen Realität eingefordert werden dürfen. Und ein solcher ist in letzter Zeit vernachlässigt worden. Dazu gehört etwa das Versäumnis, sich ausreichend mit den deterministischen Erklärungsmodellen auseinanderzusetzen, die von den Naturwissenschaften zunehmend auf die Gesellschaft übergreifen. Als paradigmatisches Beispiel sind in dem Zusammenhang die heute als Leitwissenschaft geltenden Neurowissenschaften zu nennen, deren bisweilen stark reduktionistisches Menschenbild für soziale Beziehungen immer prägender wird. Obwohl zweifelhaft erscheint, dass die Neurowissenschaften die in sie projizierten Erwartungen erfüllen können, werden sie reichlich finanziert, vielleicht gar überfinanziert.


Vor den Neurowissenschaften war es die Genetik, für die die Forschungsgelder unaufhörlich sprudelten. Das Versprechen, mit ihren Forschungen zur Heilung vieler Krankheiten beitragen zu können und der Menschheit viel Leid zu ersparen, konnte nicht eingelöst werden. Man kann diesbezüglich von einem kläglichen Versagen der Genetik sprechen. Und dass klassische Modelle der Wirtschaftswissenschaften über Nacht nicht nur obsolet geworden sind, sondern auch den Verlust von Billionen von Euros mitverschuldet haben, kann niemand bestreiten. Alles Wissenschaften, in der die Mathematik eine große Rolle spielt. Dass nun auch die Geisteswissenschaften stärker auf sie bauen sollen, kann vor dem Hintergrund nur als Drohung verstanden werden.

Es wäre wohl interessant zu erfahren, warum gerade an den Geisteswissenschaften Kritik geübt wird? Mit welchen Misserfolgen können sie aufwarten? Und gibt es mit den „digital humanities“ nicht bereits eine stärkere Ausrichtung an naturwissenschaftlichen Methoden, die Rudolf Taschner so vehement einfordert? Aber ob mit den „digital humanities“ wirklich ein engerer Bezug zwischen den Geisteswissenschaften und der sozialen Realität hergestellt wird, wage ich zu bezweifeln. Eher wird mit ihnen die Komplexität gesellschaftlicher Fragestellungen umgangen.

Klaus Hödl ist Historiker am Centrum für Jüdische Studien an der Karl-Franzens-Universität Graz.


E-Mails an: debatte@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 14.08.2013)

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