Obama in der Sackgasse: Bomben für die Moral?

Gastkommentar. Ein US-Militärschlag wird den Bürgerkrieg in Syrien nicht beenden. Doch schon eine einzige amerikanische Rakete macht die Vereinigten Staaten zum unmittelbaren Kriegsteilnehmer und wird zu noch mehr Gewalt in der geplagten Region führen.

Die rhetorische Begabung von US-Präsident Barack Obama zählt zu seinen größten Stärken. Doch gerade sieht es so aus, als hätte er sich mit seiner Wortwahl in eine Sackgasse manövriert.

Nachdem er im März erklärt hatte, dass die USA „den Einsatz von Chemiewaffen gegen die syrische Bevölkerung nicht dulden“ würden und 2012 von einer roten Linie gesprochen hatte, die nicht überschritten werden dürfe, wird er sein Gesicht verlieren, wenn er nicht entschlossen auf die Ermordung von über 1000 Zivilisten mit dem Nervengas Sarin reagiert, für die angeblich das syrische Regime verantwortlich ist.

Natürlich ist das Risiko eines Gesichtsverlusts kein guter Grund, ein anderes Land anzugreifen. Aber warum hat sich Obama überhaupt erst durch eine solche Rhetorik in Bedrängnis gebracht? Warum gerade diese rote Linie?

Moralisch obszön ist auch Foltern

Außenminister John Kerry hat den Einsatz von Gas zu Recht als „moralische Obszönität“ bezeichnet. Das ist das Foltern von Kindern aber auch – und damit hat der Bürgerkrieg in Syrien vor über zwei Jahren eigentlich begonnen. Und ist die Ermordung von Zivilisten mit chemischen Kampfstoffen moralisch obszöner als Tod durch Geschützfeuer, Erschießung oder verhungern lassen?

Spätestens seit im Ersten Weltkrieg Senfgas eingesetzt wurde, wird davon ausgegangen, dass bestimmte Waffen unmoralischer sind als andere. Massenvernichtungswaffen, vor allem Atomwaffen, richten mehr Schaden an als konventionelle Waffen. Aber gibt es wirklich einen klaren moralischen Unterschied zwischen der Ermordung von etwa 100.000 Menschen in Hiroshima mit einer Atombombe und der Ermordung von sogar noch mehr Menschen in Tokio in einer einzigen Nacht durch Brandbomben? War es unmoralischer, Juden zu vergasen als sie vor offenen Gruben mit Maschinengewehren zu erschießen?

Der „New York Times“-Kolumnist Nicholas Kristof hat argumentiert, dass eine prompte Bestrafung Syriens Präsidenten Assad überzeugen könnte, den Einsatz von Chemiewaffen zu beenden und „banalere Methoden einzusetzen, um sein Volk niederzumetzeln“. Das ergibt für mich keinen Sinn. Das Niedermetzeln ist doch das Problem, nicht die Methoden.

Auf jeden Fall ist moralische Empörung, mag sie auch noch so gerechtfertigt sein, kein ausreichender Grund, in den Krieg zu ziehen. Mao war in den 1950er- und 1960er-Jahren für den Tod von über 40 Millionen Chinesen verantwortlich. Niemand, der klar bei Verstand war, hat damals vorgeschlagen, dass ein Militäreinsatz in China eine gute Idee wäre. In den 1980er-Jahren hat Saddam Hussein hunderttausende Iraner und Kurden vergast. Die USA haben ihn unterstützt.

Geht es um eine rechtliche Frage?

Geht es demnach um eine rechtliche Frage? Der Einsatz von C-Waffen ist tatsächlich ein Verstoß gegen internationale Übereinkommen, einschließlich der Chemiewaffenkonvention, die Syrien nie unterzeichnet hat, und des Genfer Protokolls, in dem Syrien Vertragspartei ist. Es gibt also gute Gründe, Assad als Kriegsverbrecher zu behandeln und ihn am Internationalen Strafgerichtshof unter Anklage zu stellen. Eine Umgehung der UNO und die Entfesselung eines rechtswidrigen Krieges zur Bestrafung einer rechtswidrigen Handlung ist jedoch keine Politik, die sich einfach verteidigen ließe.

Die andere Sichtweise

Dennoch könnte man meinen, dass die „internationale Gemeinschaft“, der Westen oder die USA doch wohl irgendwo eine Grenze ziehen müssten. Wie können verantwortungsbewusste Staaten einfach wegschauen, wenn unschuldige Menschen in großer Zahl getötet werden? Es ist nicht vertretbar, Völkermord zuzulassen.

Aber wo genau ziehen wir diese Grenze? Wie viele Morde sind ein Völkermord? Tausende? Hunderttausende? Millionen?

Oder ist es keine Frage der Zahlen? Schließlich ist Völkermord die Absicht, Menschen aufgrund ihrer Rasse, ethnischen Zugehörigkeit oder ihres Glaubens umzubringen oder zu verfolgen. Theoretisch könnte die Ermordung von zehn – oder auch zwei – Menschen aus diesen Gründen eine Form von Genozid sein. Es gibt eine andere Möglichkeit, die Angelegenheit zu betrachten. Bevor man mit Gewalt in einem anderen Land eingreift, muss man abwägen, ob sich die Situation dadurch verbessert, Leben gerettet werden und die Welt sicherer wird. Ja, Gewalt gegen Bürger – ob durch Sarin oder Kampfhubschrauber – ist eine moralische Obszönität.

Es stellt sich die Frage, wie man reagieren soll: Was kann funktionieren? Gerechtigkeit und Moral haben wenig damit zu tun. Ähnlich wie beim Internationalen Strafgerichtshof stehen die Chancen, dass „humanitäre Intervention“ funktioniert, im Fall eines schwachen Landes (etwa Serbien oder Mali) besser, als wenn eine Großmacht involviert ist. Niemand wird der Wahrung der Menschenrechte oder der Einhaltung des Kriegsvölkerrechts halber Raketen auf China oder Russland abfeuern.

Syrien ist nicht Libyen oder Mali und auch keine Großmacht. Doch der Bürgerkrieg hat sich bereits über seine Grenzen hinweg ausgebreitet und dabei größere Mächte wie den Iran, die Türkei und Russland in den Konflikt hineingezogen. Noch schlimmer als die moralischen Obszönitäten eines Bürgerkriegs wäre ein regionaler Flächenbrand.

Geht es letztlich um den Iran?

Es ist keineswegs sicher, dass eine US-Intervention das Risiko einer Ausweitung des Krieges verringern würde. Tatsächlich wünschen sich einige Befürworter einer US-Intervention – sowohl Neokonservative als auch „liberale Falken“ – offenbar das Gegenteil; sie wollen einen Krieg gegen den Iran. Und in Obamas Vorstellung gibt es wahrscheinlich eine klare Verbindung zwischen der roten Linie in Syrien und der Grenze, die er, vermutlich ebenso unklug, dem Iran gesetzt hat, um das Land an der Entwicklung von Atomwaffen zu hindern.

Was also kann durch einen US-Angriff auf syrische Ziele erreicht werden, der − wie Obama versichert hat – nicht dazu dienen soll, einen Regimewechsel in Syrien herbeizuführen? Ein Militärschlag wird den Bürgerkrieg nicht beenden. Doch schon eine Rakete würde die USA zu einen unmittelbaren Kriegsteilnehmer machen und zu noch mehr Gewalt führen.

Obamas Ehrenrettung scheint dieses Risiko kaum wert zu sein. Viele Menschen in Syrien sind dieser Auffassung, sogar unter den Rebellen. Die meisten Menschen in Europa sind dieser Auffassung. Auch die meisten Menschen in den USA sind dieser Auffassung. Vielleicht ist sogar Obama höchstpersönlich dieser Auffassung...

Aus dem Englischen von Sandra Pontow.
Copyright: Project Syndicate, 2013.

Zum Autor


E-Mails an: debatte@diepresse.comIan Buruma (*28.12.1951 in Den Haag) studierte chinesische Literatur in Leiden und japanischen Film in Tokio. 2003 wurde er Professor für Demokratie und Menschenrechte am Bard College in New York. Zahlreiche Publikationen. Zuletzt ist als Buch von ihm erschienen: „Taming the Gods: Religion and Democracy on Three Continents.“ [Internet]

("Die Presse", Print-Ausgabe, 06.09.2013)

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