München, Frühherbst 1938: Ein Fanal des 20.Jahrhunderts

Gastkommentar. Das Münchner Abkommen Großbritanniens und Frankreichs mit Hitler und Mussolini hat noch heute Nachwirkungen.

Wer heute auf dem Hauptkamm des Riesengebirges an der polnisch-tschechischen Grenze wandert, kann sich kaum der Faszination der weitläufigen Verteidigungsanlagen entziehen. Die tschechoslowakischen Bunker, Signaltürme und Schießstände bieten großartige Blicke in die Täler und die Ferne, vergleichbar mit den Festungsanlagen in den Dolomiten aus der Zeit des Ersten Weltkriegs.

Die tschechische Maginot-Linie ist deshalb so gut erhalten, weil sie vor 75 Jahren über Nacht wertlos wurde. England, Frankreich, das Deutsche Reich und Italien unterzeichneten am 30.September 1938 das Münchner Abkommen und dekretierten, dass die Tschechoslowakei die überwiegend deutsch besiedelten Grenzgebiete an das nationalsozialistische Deutschland abtreten musste.

Die Tschechoslowakei saß dabei nicht einmal am Verhandlungstisch. Es war ein Deal der europäischen Großmächte zulasten einer „kleinen“ Nation. Hitlers Verachtung für die Tschechen war bekannt, doch auch die britischen Unterhändler verfielen in einen geradezu kolonialen Tonfall.

Sir Horace Wilson, ein enger Berater von Premierminister Chamberlain, sagte laut Verhandlungsprotokoll, er werde „those Czechos“ schon zum Nachgeben bringen. Die Westmächte gaben die letzte Demokratie in Zentraleuropa preis und fügten sich der Erpressung Hitlers, der offen mit einem Krieg gedroht hatte.

Eine neue Friedensordnung

Ebenso bekannt ist die üble Rolle der Sudetendeutschen Partei und ihres Führers Konrad Henlein, der den Nationalsozialisten als Zuträger diente.

Das Münchner Abkommen beinhaltete jedoch weit mehr als das Appeasement Hitlers, das in der politischen Erinnerung im Vordergrund steht. Die Signatarstaaten vereinbarten eine neue europäische Friedensordnung, die auf ethnischen Grenzen basieren sollte. Ein Schutz der Minderheiten, und damit ein wesentlicher Bestandteil der Friedensordnung von Versailles, war nicht mehr vorgesehen.

Wer auf der falschen Seite der neuen Grenze lebte, musste emigrieren oder sich assimilieren. Die ersten Opfer dieser neuen Friedensordnung, um die es im Folgenden geht, war die tschechische Bevölkerung in den Sudetengebieten. Mindestens 150.000 Tschechen flohen direkt vor dem Einmarsch der Wehrmacht oder in den folgenden Wochen. Im Lichte späterer „ethnischer Säuberungen“ mag diese Zahl als relativ gering erscheinen, aber es war die bis dahin umfangreichste Bevölkerungsverschiebung im mittleren Europa.

Außerdem war das Münchner Abkommen proaktiv angelegt. Die Unterzeichner legten fest, dass auch in der Südslowakei eine neue, ethnische Grenze gezogen werden sollte. Dort gab es nach dem Ersten Wiener Schiedsspruch, der die ungarische Grenze nach Norden verschob, etwa 100.000 tschechische und slowakische Flüchtlinge.

Im Jahr 1940 folgte der Zweite Wiener Schiedsspruch und eine neue ungarisch-rumänische Grenze in Siebenbürgen. Dort verloren etwa 380.000 Menschen ihre Heimat. Der „Bevölkerungsaustausch“ in der zwischen Bulgarien und Rumänien umstrittenen Dobrudscha erfasste etwa 160.000 Menschen.

Vertreibung und Genozid

Noch schlimmer waren die Zustände im ehemaligen Jugoslawien. Dort eskalierte die Beseitigung der serbischen Minderheit in Kroatien zu einem Genozid mit etwa gleich vielen Toten wie Vertriebenen. Insgesamt lag die Zahl der Flüchtlinge in Zentraleuropa und Südosteuropa 1942 bei etwa zwei Millionen – die nationalsozialistische Neuordnung Europas brachte also vor allem massenhaftes Leid und Gewalt.

Doch die Ursprünge dieser Ordnung gehen nicht allein auf den Nationalsozialismus zurück. Ein Jahr vor dem Ausbruch des Zweiten Weltkrieges schlug der britische Botschafter in Bukarest der rumänischen Regierung einen Bevölkerungsaustausch in der Dobrudscha vor.

Sondierungen in Warschau

Auch außerhalb Europas gab es ähnliche Vorschläge zur Lösung interethnischer Konflikte – so etwa in Palästina, wo eine britische Untersuchungskommission 1937 erstmals die Teilung des Mandatsgebietes zwischen Juden und Arabern und die daraus folgende Zwangsmigration von 200.000 Menschen vorschlug.

Auf die Slowakei wurde bereits verwiesen, Polen drohte 1939 ebenfalls ein Deal nach dem Vorbild des Münchner Abkommens. Wie der britische Historiker Matthew Frank herausfand, sondierten 1939 die britischen und französischen Botschafter in Warschau, ob Polen nicht auch überwiegend deutsch besiedelte Gebiete abtreten könne. Nur weigerte sich in diesem Fall die polnische Regierung. Wenig später bekam Hitler im Geheimpakt mit Stalin wesentlich mehr, als ihm die Westmächte bieten konnten.

Wie erklärt sich diese Fixierung auf ethnische Grenzen? Das Vorbild war stets das Abkommen von Lausanne von 1923, das den türkisch-griechischen Krieg beendet hatte. Fast die gesamte christliche und muslimische Minderheitenbevölkerung musste infolge dieses Abkommens die Türkei bzw. Griechenland verlassen. Dieser „Bevölkerungsaustausch“, so die euphemistische Benennung, war zwar eine humanitäre Katastrophe, aber in Erinnerung blieb die Friedensstiftung und die „Lösung“ eines Minderheitenproblems.

Auch Stalin profitierte

Dies spiegelt sich sogar in der Aufhebung des Münchner Abkommens im Jahr 1942. Winston Churchill erkannte den Fehler von 1938. Die britische Regierung erklärte daher das Münchner Abkommen für null und nichtig. Diese Aufhebung bezog sich aber nicht auf das Prinzip einer ethnischen Grenzziehung.

Bereits 1942 war klar, dass mindestens eine Million Deutsche die Tschechoslowakei würden verlassen müssen. Nur jene Angehörige der Minderheit, die als loyal oder assimilierbar galten, sollten bleiben dürfen. Die groß angelegten ethnischen Säuberungen der Jahre von 1945 bis 1948 und besonders die Vertreibung der Sudetendeutschen gehen daher ebenfalls auf das Münchner Abkommen zurück.

Neben Hitler profitierte vor allem Stalin von dem Abkommen. Die Tschechoslowakei und ihr Exil-Präsident Beneš wandten sich der Sowjetunion als neuer Schutzmacht zu – mit fatalen Folgen in den Jahren 1948 und 1968.

Der „Verrat“ der Westmächte

Jean-Paul Sartre reagierte mit dem heute weitgehend vergessenen Roman „Le sursis“, in dem er mit dem „Verrat“ der Westmächte und der französischen Demokratie abrechnete. Seine Hinneigung zum Kommunismus, und jene zahlreicher westeuropäischer Intellektueller, geht ebenfalls auf das Münchner Abkommen zurück.

Am meisten nutzten die tschechoslowakischen Kommunisten das Münchner Abkommen aus. Sie verwiesen wie Sartre immer wieder auf den „Verrat“ des Westens und nährten damit das kollektive Trauma der tschechischen Gesellschaft.

Wer verstehen will, warum in der tschechischen Politik bis heute eine so große Europa-Skepsis herrscht, kommt daher ebenfalls nicht am Münchner Abkommen vorbei.

DER AUTOR

E-Mails an:debatte@diepresse.com

Philipp Ther
(*1967) ist Professor für Geschichte Ostmitteleuropas an der Universität Wien. Zuletzt veröffentlichte er das Buch „Die dunkle Seite der Nationalstaaten. ,Ethnische Säuberungen‘ im modernen Europa“. Weitere Forschungsgebiete sind die Geschichte des späten Habsburgerreiches und die Geschichte des Umbruchs von 1989 und der Transformation. [ Uni Wien ]

("Die Presse", Print-Ausgabe, 02.10.2013)

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