Die vielen Missverständnisse im NSA-Skandal

Die Geheimdienste demokratischer Staaten überwachen in der Regel nicht die eigenen Bürger schlechthin. Sie interessieren sich für sie nur, wenn sie sich kriminell, terroristisch oder politisch extremistisch verhalten.

Österreich ist anders. Das hat zuletzt gerade auch der direkte Vergleich des hiesigen Wahlkampfes mit dem deutschen gezeigt. Hierorts wird hurtig gemogelt, die Realitäten werden weitgehend ignoriert. So genau wird vom Wähler ja ohnedies nicht hingeschaut. Wir behaupten einmal und argumentieren drauflos, auch wenn der ORF bisweilen „Faktenchecker“ ausgeschickt hat. Beispiele gefällig?

Nehmen wir doch den sogenannten Skandal um den US-Abhördienst NSA (National Security Agency). Da entblödete sich eine formal durchaus gebildete Ministerin tatsächlich nicht, den abgebrühten Amerikanern ein „No-Spy-Agreement“ ablocken zu wollen.

Abgesehen von einer offensichtlichen Fremdsprachenschwäche, denn es müsste wohl eher ein „No Spying“-Abkommen werden, zeigt dieses Beispiel eine auch sonst in dieser Causa von allen politischen Parteien quer durch das Spektrum an den Tag gelegte Ahnungslosigkeit, peinliche Naivität und ein geradezu kindliches Verständnis von internationaler Politik. In Washington kann man darob nur geschmunzelt haben.

Keine Freiheit ohne Sicherheit

Im Kern geht es heute um Sicherheit, ohne die es, wie schon Wilhelm von Humboldt wusste, keine Freiheit geben kann – und zwar um Sicherheit des Einzelnen, des Staates und auch der Staatengemeinschaft. Zu diesem Zweck haben Machthaber und Machteliten schon seit dem ausgehenden 15. Jahrhundert die Institution Staat geschaffen: Machiavellis „il stato“, ist vielleicht die nachhaltigste Idee des modernen Menschen.

Dieser Staat wurde seither kontinuierlich weiterentwickelt, als wichtigstes Instrument zu Schaffung von Sicherheit durch legitimierte Gewaltanwendung, zum Nutzen einer wachsenden Allgemeinheit, aber auch der sich seit dem 17. Jahrhundert herausbildenden Staatengemeinschaft.

Dieser Prozess lief vor allem über Innovation geeigneter sicherheitspolitischer Mittel, in der Regel militärische; über Konstitution rechtlich geordneter Maßnahmen, und über Legitimation durch einsichtige Ordnung ab. Er mündete in dem inzwischen längst erfolgten globalen Durchbruch des Nationalstaates, der Mitte des 19. Jahrhunderts eingesetzt hatte.

Seine wenigstens partielle Überwindung wird mit Ende des Kalten Krieges seit 1989/91 angesetzt. Seither befinden wir uns im Übergang zum Marktstaat, der dem Machtgefüge des Einzelstaates deutlich zusetzt und die alten Verhaltensmuster der Gesellschaft von Staaten zunehmend infrage stellt, etwa im Bereich der Wohlfahrt.

Was hat das alles aber mit dem NSA-Skandal zu tun? Viel, denn die Übergangswehen vom National- zum Marktstaat, wie er sich in fast allen fortschrittlichen Gesellschaften manifestiert, überfordert die politischen Eliten nicht weniger als die Analytiker dieses Prozesses, den die Sozialwissenschaften seit 20 Jahren zu erfassen und zu deuten bemüht sind.

Zunehmendes Misstrauen

Diese Veränderungen haben aber auch zu einem stetig zunehmenden Misstrauen gegenüber dem Staat und nicht weniger gegenüber dem bestehenden Staatensystem geführt, das sich gerade in Wahlkampfzeiten besonders ausgeprägt manifestiert. Die Snowden-Affäre bietet hervorragendes Anschauungsmaterial dafür.

Sie beweise, so wird argumentiert, dass der Staat, und insbesondere die einzig verbliebene Ordnungsmacht der Welt, die USA, sich ob der Tendenz zur (totalen) Überwachung noch immer als übermächtig erweisen. Zugleich mit dieser Kritik erwarten wir uns jeden erdenklichen staatlichen Schutz für die Gemeinschaft wie auch für den einzelnen Bürger.

In Erfüllung dieser vielleicht verständlichen, jedoch oft unvernünftigen Erwartungen hat sich spätestens seit Ende des Zweiten Weltkriegs der nationale Sicherheitsstaat entwickelt, was zum sukzessiven Ausbau eines ausdifferenzierten Sicherheitsapparates, insbesondere im Bereich von geheim- und nachrichtendienstlichen Einrichtungen führte, in Demokratien wie in Diktaturen gleichermaßen.

Wir kennen die Beispiele, vor allem seit Ausbruch des Kalten Krieges. Und die beiden Mächtigsten trieben es diesbezüglich besonders arg, zumindest laut angeblich gesunder Volksmeinung.

Im Fall der NSA liegt allerdings ein Missverständnis vor. Denn sie ist mit Sicherheit nicht an einer totalen Überwachung der globalen Bevölkerung von heute über sieben Milliarden Menschen interessiert. Noch weniger am gesetzlich verbotenen Monitoring der eigenen Bevölkerung, sondern an der legitimen Wahrnehmung von Gefährdungen, der eigenstaatlichen wie auch der globalen.

Ein Unterschied, wer lauscht

Nur die Amerikaner sind weltweit dazu wirklich fähig, wenngleich auch sie auf Kooperationen angewiesen sind, sogar mit österreichischen Partnern. Es macht einen Unterschied, ob westliche Demokratien lauschen, spähen und spitzeln, um Terrorismus, organisierter Kriminalität oder internationalem Drogenhandel auf die Spur zu kommen, oder ob es, wie im Fall autoritärer Regimes, vordringlich darum geht, Widerspruch und Widerstand im eigenen Staat zu verhindern. Wenn in Demokratien Missgriffe und Missbrauch vorkommen, werden sie in aller Regel entdeckt und über gesetzliche Maßnahmen auch abgestellt. Dafür gibt es historische Beispiele.

Viele der künstlich aufgeregten Kritiker der NSA empören sich wider besseres Wissen gegen die Kapazität von technologisch immer potenter ausgestatteten Diensten, geben aber gleichzeitig höchstpersönliche und oft auch intime Informationen über neue Medien wie Facebook weiter oder setzen sich bereitwillig der finanziellen Durchleuchtung durch E-Banking aus.

Globale Informationsflut

Ich aber behaupte, demokratische Geheimdienste überwachen in der Regel nicht den Bürger schlechthin, sondern interessieren sich für ihn nur, wenn er sich kriminell, terroristisch oder politisch extremistisch verhält. Mehr könnte selbst die mächtige Institution NSA angesichts der globalen Informationsflut gar nicht leisten.

Ich für meinen Teil fürchte nicht um die Beschneidung meiner Menschen- und Freiheitsrechte – egal, ob ich mich in Österreich oder, was regelmäßig vorkommt, in den USA aufhalte. Meine Telefonate und E-Mails interessieren weder in Fort Meade noch in Cheltenham.

Ich bestehe auch nicht auf 100-prozentiger Privatheit meiner Lebensumstände, nicht einmal als überzeugter Facebook-Verweigerer, wenn ich im Gegenzug ohne Angst durch Graz oder Boston spazieren kann. Erst dieses Sicherheitsgefühl verbessert meine Lebensqualität – egal, ob die dafür nötigen staatlichen Einrichtungen von einem Nationalstaat, Marktstaat oder von einer Hypermacht wie Amerika unterhalten werden.

Ich fürchte mich eigentlich nur vor denen, die mich terrorisieren oder gar töten wollen, auch wenn es vermutlich verschwindend wenige sind. Und ich ärgere mich über die vielen, die mich betrügen wollen – nicht nur in Wahlzeiten.

DER AUTOR

E-Mails an: debatte@diepresse.com

Siegfried Beer (*1948 in Scheibbs) studierte Geschichte und Anglistik in Wien und Middletown (Connecticut), war bis heuer a.o. Professor für allgemeine neuere und Zeitgeschichte an der Uni Graz. Beer spezialisierte sich auf angloamerikanische Geschichte sowie Geheimdienste im 20.Jahrhundert; er gibt seit 2007 das „Journal für Geheimdienst-, Propaganda- und Sicherheitsstudien“ heraus. [ Uni Graz ]

("Die Presse", Print-Ausgabe, 03.10.2013)

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:


Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.