Mit Sozialtarifen gibt es eben keine Spitzenmedizin

Systemdefizite zu erklären wäre die Aufgabe des Gesundheitsministers.

Wohin geht die Medizin? Kaum ein Tag vergeht, an dem nicht in diversen Medien Meldungen über leidgeprüfte Patienten, überarbeitete Ärzte oder übervolle Ambulanzen zu lesen sind. Einmal gibt es zu viele Ärzte, dann wieder einen Ärztemangel. Dann gibt es zu viele Spitäler, aber die Ambulanzen sind trotzdem voll und die Krankenbetten ausgelastet.

Aus Sicht des Patienten ist die Spitalsambulanz der ideale Zugang zu medizinischer Grundversorgung: rund um die Uhr geöffnet, viele Fachabteilungen und frei zugänglich. Lange Wartezeiten werden mehr oder weniger erduldet, zumal die Wartezeiten auf Facharzttermine im niedergelassenen Bereich durchwegs mehrere Monate, Untersuchungen wie MRT (Magnetresonanz) mehrere Wochen betragen können.

Dass sich Patienten mit drei oder vier Überweisungen lieber in eine Ambulanz setzen als einen mehrwöchigen Exkurs durch den Ordinationsdschungel zu starten, ist verständlich und nachvollziehbar. Einer mit „Vollkaskomentalität“ ausgestatteten Bevölkerung sind die Systemdefizite (lange Wartezeiten, limitierte Operationsleistungen, bewilligungspflichtige Medikamente etc.) schwer zu vermitteln, wiewohl es nicht den Ärzten obliegt, diese Mängel gegenüber den Patienten zu rechtfertigen; das müssten die verantwortlichen Politiker tun – konkret: der Gesundheitsminister.

Zugang erschweren

„Angebot schafft Nachfrage“ ist eine bekannte Weisheit jedes Kaufmannes. Der Ausbau von Spitalsambulanzen mit Erweiterung des Leistungsangebotes ist der Garant für Kundenzustrom (= Patienten). Gesundheitsökonomen weisen seit geraumer Zeit auf diesen Umstand hin. Die Reduktion dieses unkontrollierten Zustroms kann nur in einem erschwerten Zugang – Ambulanzgebühr/Selbstbehalt – oder einer Leistungsreduktion liegen. Beides ist politisch fast nicht durchsetzbar und moralisch fraglich. Gesundheitsökonomisch aber würde es durchaus Sinn haben.

Dezentrale Kassenmedizin

Fakt ist: Es gibt keinen Ärztemangel, es gibt jedoch einen Mangel an Kassenärzten (Fachärzten, Allgemeinmedizinern) vor allem in dezentralen Gebieten. Schon jetzt decken Wahlärzte einen großen Teil der medizinischen Versorgung ab und stellen die größte Gruppe im Bereich der niedergelassenen Ärzte dar.

Diese Form der medizinischen Versorgung ist jedoch nicht allen Menschen zugänglich, weil nicht leistbar. Demonstrationen von Spitalsärzten wie zuletzt im Wiener AKH sind Ausdruck unerfüllter Work-Life-Balance und Überbelastung einer leistungsbereiten Berufsgruppe. Ihre Bedürfnisse zu negieren ist brandgefährlich.

Die Lösung kann nur im Ausbau der dezentralen Kassenmedizin liegen. Dem Hausarzt als Kapitän (nicht Lotse!) obliegt die Erstversorgung. Er überweist im Bedarfsfall an Fachärzte oder Krankenhäuser. Durch Ausbau und Stärkung der niedergelassenen Ärzte und Ordinationen kann die wohnortnahe Patientenversorgung garantiert werden. Der politische Wille und eine leistungsgerechte Entlohnung dazu fehlen bis heute.

Nicht zuletzt wirken die degressiven Honorarsysteme der Sozialversicherungsanstalten leistungsmindernd und demotivierend. Beim Wert eines Krankenscheins von 18 Euro pro Quartal inklusive unbegrenztem Patientenzugang darf man sich über mangelnden medizinischen Nachwuchs nicht wundern. Mit Sozialtarifen kann man keine Spitzenmedizin finanzieren, zumindest nicht auf Dauer. Daran wird auch die neue Med-Uni Linz nichts ändern!

Dr. med. Thomas Stangl ist Arzt für Allgemeinmedizin in St. Gilgen, Notarzt,

allgemein beeideter und gerichtlich
zertifizierter Sachverständiger.

E-Mails an:debatte@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 31.01.2014)

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