Wir werden die Bande nicht los

Die Wiener Linien produzieren mit ihrer Anti-Bettel-Kampagne Strache-Wahlkampf ohne Strache.

Wien, Winterzeit, U6, Station Jägerstraße. Ein etwa 16-jähriger Bettler schleicht durch den Waggon. Er gehört nicht zur „Hast einmal einen Euro“-Fraktion, ist zu schüchtern für seinen Job, streckt den Leuten hilflos die Hand hin, Geld gibt ihm keiner. Vielleicht auch deshalb, weil die Fahrerin gerade eine Lautsprecher-Durchsage tätigt: „Achtung, es sind Bettler im Zug. Gebt's ihnen nix! Sonst werden wir die Bande nie los!“

Während in den U-Bahnen anderer europäischer Hauptstädte eine vielfältige Musikkultur (Paris) oder Bettelkultur (die Blinden in Lissabon) entstanden ist, die von manchen Passagieren ignoriert, von anderen gefördert wird, nehmen die Wiener Linien seit jeher eine rigide Haltung gegenüber informeller Erwerbstätigkeit ein. Ich fand das immer traurig, akzeptierte es aber als legitimen Ausdruck österreichischer Seele. Wenn nun aber über Lautsprecher individuell Politik betrieben wird, die den Passagieren Verhaltensweisen – einer suggestiv als existent vorausgesetzten „Bande“ tunlichst kein Geld zu geben – vorschlägt, überschreitet das eine Grenze: Denn es heizt die Stimmung vom Typus „Bevölkerung wehrt sich“ auf, und es produziert Strache-Wahlkampf ohne Strache.

Zutiefst österreichischer Kontrollzwang

Durch die Verschiebung der EU-Außengrenzen übernimmt Europa soziale Probleme der Oststaaten. Denn die Liberalisierung der Wirtschaft mit ihren Sparkursen führt in Ländern wie Rumänien, Bulgarien und der Slowakei zu einer Verarmung der Ärmsten. Europa wird sich dem Problem stellen müssen. Karl-Markus Gauß brachte es in seinem Kommentar „Die Roma werden sichtbarer“ im „Standard“ (21.Dezember) auf den Punkt: „Hört man sich einmal genauer an, wie in Österreich gegen die Roma-Bettler mobil gemacht wird, könnte man vermuten, es gäbe so etwas wie ein Menschenrecht des Wohlhabenden (?), nicht durch die pure Anwesenheit von Hungerleidern behelligt zu werden.“

Spricht man den Kundendienst der Wiener Linien auf den Vorfall in der U6 an, hält einem der geschulte Mitarbeiter folgende politische Rede: „Das sind keine armen Leute, sondern Verbrecher. Das ist organisierte Kriminalität. Die Leute kommen mit Bussen und werden an den U-Bahnstationen abgesetzt und später wieder abgeholt.“ Seine Reaktion ist die unverfälschte, banale Zigeunerstereotype, europaweit tausend Mal erprobt. Das erste Mal hörte ich sie 1988 in Lissabon. „Die Zigeunerbettlerin da drüben, die ist Millionärin“, wurde mir mehrfach erklärt, „wird jeden Abend von einem Mercedes abgeholt.“ Ich war verblüfft, da drüben stand eine verschmuddelte, dunkle Frau.

Wo Kinder betteln, heißt es – zu Recht – sie würden zur Geldbeschaffung missbraucht. Doch anstatt sich den sozialen Gründen für die Zunahme dieses Missbrauchs zuzuwenden, wird „der Bande“ Bandenwesen und das sonst anerkannte Prinzip der Gewinnmaximierung vorgeworfen und so getan, als könne ein Boykott ein „Verbrechen“ mildern: So funktioniert argumentloses, ungustiöses Schüren der Bettelangst.

Es sind übrigens die Wiener Linien mit Kinderstimmen („Bitte lassen Sie Ihre Zeitung nicht im U-Bahn-Zug zurück“), die Geister loskriegen wollen, die sie selbst riefen – den Gratiszeitungs-Papierberg. Vermutlich soll der Slogan lieb klingen, reflektiert aber nur die Hilflosigkeit des zutiefst österreichischen Kontrollzwangs angesichts des Unkontrollierbaren im eigenen Inneren. Die grausig unschuldige Kinderdurchsage will im Namen des Transportunternehmens das beliebte Billigblatt-Sharing unterbinden. Schade, und letztlich nicht im Sinne des Erfinders, denn selbige Boulevardprodukte produzieren ja erst die Eskalationen der Asylstimmungsmache – und ihre journalistischen Meinungen treffen sich famos mit denen der Wiener-Linien-Privatsheriffs!

Beliebiges Beispiel: In der Zeitung „Österreich“ schreibt Markus Wolschlager (3.Jänner) unter dem Titel „Asyl-Drama spitzt sich zu“, dass in den letzten zwei Wochen „500 neue Asylwerber per Zug und sogar mit dem Taxi nach Österreich“ (das Land, nicht die Zeitung; das Taxi, nicht der Mercedes) gereist seien, die anschließend „versuchen, ihr Exil hier zu verbringen“. Illustration: die altbekannten, knallroten, Krone-erprobten Völkerwanderungspfeile von Ost nach West. Wir werden die Bande nicht los!

Betteln ist gefährlich

Einfache Rechnung: Ausländer = Exilanten = Asylanten = Bettler. „Diese Bettler leben ja in Wirklichkeit im Luxus“, das hörte ich 1988 in Lissabon und höre es 2008 in Wien. Genau, und wenn Zigeuner betteln, ist das wiederum kein Betteln, sondern organisierte Kriminalität. Die Wiener Linien haben idealerweise bereits eine corporate opinion dazu – Betteln sei gefährlich. Wem gefährlich? Der Sicherheit! Mein Nebengedanke: Herrenmenschen haben ja immer schon gerne versucht, die Roma im Namen der Sicherheit zusammenzusammeln.

Der 16-jährige Bettler stieg übrigens an der nächsten Station aus und weiter vorne wieder ein, und es sah nicht so aus, als würde er im nächsten Waggon besonders abcashen. Wenn er weiterhin so defizitär arbeitete, dachte ich, würde ihn seine mächtige kriminelle Organisation nächstens womöglich gar entlassen.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 07.01.2008)

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