Welche politische Klasse wollen wir überhaupt?

Geht es um die Zukunft des Zustandekommens politischer Entscheidungen oder um das politische Personal? Zur Debatte um ein neues Wahlrecht.

Die Erstarrung politischer Systeme führt zwangsläufig zum verzweifelten Versuch, über Systemdiskussionen das durch persönliche, strategische und taktische Überlegungen erzielte Patt zu überwinden. Dazu gehört auch die Frage nach einem neuen Wahlrecht, die von den Ministern Bartenstein und Pröll – mit der neuen Facette des englischen Mehrheitswahlrechts – aufgeworfen wurde. Diese nun schon einige Zeit parallel zum immer fokussierteren Aufeinandereinschlagen der beiden Volksparteien geführte Diskussion wirft aber eine grundsätzliche Frage auf, die bisher aus der Diskussion – bewusst? – herausgehalten wurde: Geht es wirklich um die Zukunft des Zustandekommens politischer Entscheidungen – oder geht es um die Frage der Entscheider, also um das politische Personal?

Nimmt man die politischen Parteien als Ausgangspunkt, dann versuchen sie immer noch den Schein wichtiger Entscheidungsvor- und aufbereiter zu wahren. Parteisekretariate bedienen täglich mehrmals die Medienschiene mit wichtigen Terminmitteilungen oder mit terrierhaften Beißreflexen. Die großen Programmdiskussionen sind Vergangenheit – der letzte von der ÖVP initiierte Versuch einer Perspektivenbestimmung hat sich im Abgleiten in die tagespolitischen Diskussion verfangen. Die anderen Parteien haben – vielleicht deshalb? – gar nicht mehr begonnen, zukunftsfähige Diskussionen zu führen. Sind deshalb in den Parteiorganisationen die Bereiche Marketing und PR ausgebaut, die Grundsatzabteilungen aber zurückgefahren worden?

Fein säuberlich aufgeteilt

Die große Zeit der österreichischen Parteien – hier vor allem der Volksparteien – liegt in ihrer Geschichte: Nach 1945 gemeinsam angetreten, um dieses Österreich demokratisch zu gestalten, teilten sie die Republik in zwei Hälften. Sport wurde entweder als aufrechter Sozialist beim Askö betrieben, oder bürgerlich bei der Union, Bergsteiger fanden ihre Gesinnungsgenossen bei den Naturfreunden oder beim bürgerlichen Alpenverein, Autofahrer ließen sich von den sozialistischen Arbö-Bernhardinern helfen oder vom bürgerlichen ÖAMTC, die Wohnungsgenossenschaften waren fein säuberlich in beide Hälften aufgeteilt genauso wie der Arbeitsplatz wohl leichter über eines der beiden Parteisekretariate in einem Staats- oder staatsnahen Betrieb zu finden war.

Doch diese Zeiten sind lange vorbei – sagen jedenfalls beide Parteien. Der offene Wettbewerb einer fast schon echten sozialen Marktwirtschaft – die Neoliberalismusvorwürfe glauben wohl nur einige SPÖ-Wirtschaftsweisen und ihre Herz-Jesu-bewegten Kollegen in der ÖVP – hat jedenfalls erfreulich dazu beigetragen, dass immer größere Wirtschaftsbereiche unabhängig von parteipolitischer Gängelung die gesamtwirtschaftliche Situation Österreichs verbessern konnten. Dass hier die ÖVP „Opfer“ ihrer eigenen Privatisierungsphilosophie wurde – unabhängige Manager sind bekanntlich schwer parteipolitisch zu instrumentalisieren – spricht fast schon wieder für sie. Die Einbettung in die EU hat das ihre dazu beigetragen, dass viele Beschlüsse auf europäischer Ebene fallen, die nationalstaatlich nur mehr nachvollzogen werden können. Der Einfluss der Parteien ist jedenfalls stark zurückgegangen, weshalb deren Auswahlprinzip des Führungspersonals wohl zu hinterfragen ist.

Die klassische Wahl von Parteilisten scheint daher aus dieser Sicht überholt. In diese Richtung zielt wohl auch die Diskussion der letzten Wochen, die ihren gedanklichen Ursprung eigentlich in der letzten Wahlrechtsreform hat: Die Stärkung der Wahlkreise hat die Abgeordneten mehr an ihre Wahlkreise gebunden und die parlamentarische Arbeit verschlechtert. Abgeordnete werden heute nicht mehr gewählt, weil sie mit einem tollen Gesetzesentwurf in den überregionalen Medien stehen. Die lesen ihre Wähler nur zu einem geringen Teil. Die Zeltfeste und Geburtstagsfeiern vor Ort werden jedes Wochenende mit einer Anwesenheitsdemokratie überflutet, die dem US-amerikanischen Handschüttelritual – nur wer mir die Hand schüttelt, wird von mir gewählt – schon sehr nahe kommt. Dass diese Orte nicht dafür geeignet sind, zukünftige Gesetzeswerdung zu diskutieren, scheint nachvollziehbar.

Die Abhängigkeit dieser Abgeordneten von der inhaltlichen Linie einer Partei wird daher größer, die parlamentarische Arbeit noch schlechter und damit ein Zustand – der heute ohnehin schon den meisten Menschen, sofern sie überhaupt noch an Politik Interesse haben, nervt – prolongiert oder sogar noch verschlechtert.

Rekrutierung des politischen Personals

Die Grundsatzfrage jeder Diskussion eines Wahlrechts müsste – neben der Frage der zukünftigen Rolle von politischen Parteien in unserem System – daher die Frage nach der politische Klasse sein, die unser Land in Zukunft regieren soll. Zur politischen Klasse gehören auch Oppositionspolitiker, Kabinettsmitglieder, Abgeordnete, Mitglieder der zentralen Parteivorstände, Leiter der zentralen öffentlichen Anstalten und Unternehmen, aber auch Spitzenbeamte der Ministerialbürokratie etc. Die Politikwissenschaft hat sich lange Zeit im deutschsprachigen Raum aus Interessensgründen der 68er Generation wohl intensiv mit den Institutionen beschäftigt, durch die sie wandern wollten. Sie hat sich nur marginal mit dem politischen Personal und dessen Rekrutierung auseinandergesetzt. Studien zu den Auswirkungen verschiedener Wahlrechtssysteme auf die Auswahl unterschiedlicher Personengruppen und deren Repräsentanz in einem demokratischen Staatswesen fehlen größtenteils.

Die Frage nach der Auswahl unserer Repräsentanten müsste daher am Anfang einer jeglichen Wahlrechtsreform stehen und die Frage nach der Organisation unserer Demokratie stellen. Die Diskussion, ob der amtierende Bundeskanzler Leadership hat und zeigt – eine Mehrheit sieht das schon anders – ist hier nur ein Signal: Es geht um glaubwürdige Personen, die diese Leadership in einer zunehmend kritischen demokratischen Öffentlichkeit leben. Der Bruch in der Persönlichkeitsstruktur des Bundeskanzlers von Schüssel zu Gusenbauer war enorm. Die fordernde und das Wahlvolk vor sich hertreibende Art des Altkanzlers führte zu einer Sehnsucht nach österreichischer Gemütlichkeit auch im Regieren, repräsentiert durch den den Genüssen nicht abholden SPÖ-Chef.

Leadership erfordert Themengespür

Der Wandel, der durch politische Führung erreicht werden kann, bedarf aber auch der Zustimmung durch Meinungsbildung. Ein Klubchef/Parteivorsitzender ist abhängig von der Zustimmung seiner Gremien, ohne die er keine Leadership realisieren kann. Die Vielgestaltigkeit und Vielgesichtigkeit der Ziele – quantitative und qualitative –, das für die Erreichung dieser Ziele vorhandene Zeitbudget und die wechselnden Zustimmungen zu diesen Zielen erfordern für gutes politisches Leadership ein Themengespür. Dazu bedarf es auch – da war sogar die Regierung Schüssel trotz perfekter PR-Betreuung teilweise überfordert – einer Komplexitätsreduktion. Politik wird sich nicht mehr darauf ausreden können, dass alles so kompliziert ist (wie es ein sozialdemokratischer Bundeskanzler so richtig formulierte), sondern sie wird die Komplexität so weit reduzieren müssen, dass Wähler/innen die Entscheidungsnotwendigkeiten verstehen. Diese Erwartungshaltungswechsel der Wähler/innen muss Politik erst nachvollziehen und gleichzeitig der Gefahr populistischer Veroberösterreicherung der Aussagen entkommen.

Grundlage der Erneuerung

Wenn Politik zurecht Professionalisierung einmahnt, dann wird die Auswahl der Personen und vor allem Persönlichkeiten die Grundlage der Erneuerung unseres Systems darstellen. Die Fragen nach dem Einstieg in das politische System, die Frage des Ausstiegs und Wechsels zwischen den Systemen – etwa nach Vorbild der US-Think-Tanks, in denen viele Politiker und politische Beamte sich in regierungslosen Zeiten inhaltlich vertiefen –, aber auch die Frage nach dem Abschiednehmen aus der Politik und die Resozialisierung in das „normale Leben“ der „Menschen da draußen“ – muss Politik wirklich so abnormal sein? – sollten die Diskussion um ein Wahlrecht prägen oder zumindest mitprägen.

In der momentanen Diskussion zeichnen sich jedenfalls einige Persönlichkeiten durch ihre Standfestigkeit gegenüber den Parteisekretariaten aus: Pröll, Faymann, Schmied und Hahn lassen durch ihre Wortmeldungen hoffen, dass diese Diskussion um das politische Personal auch sachlich geführt wird. Wenn diese politischen Minderheiten zu Mehrheiten werden, können wir uns das Mehrheitswahlrecht vielleicht doch ersparen.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 25.02.2008)

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