Der Europa-Feldzug des Recep Tayyip Erdoğan

Bei der Umwerbung der in europäische Staaten ausgewanderten Landsleute geht es dem türkischen Regierungschef und seiner AK-Partei letztlich nur um eines: die Propagierung ihrer Politik und ihren Machterhalt.

Wieder einmal hatten sich Zehntausende aus allen Teilen Deutschlands und den Nachbarländern in Köln eingefunden, um Recep Tayyip Erdoğan zuzujubeln und die beeindruckende Kulisse abzugeben, vor der dieser gegen die Feinde einer wirtschaftlich aufblühenden Türkei wettern und sie wissen lassen würde, dass dieser Aufstieg – des Landes ebenso wie seiner Menschen – unaufhaltsam sei.

Die Begeisterung der Menschen schäumte endgültig über, als ihr Idol schließlich in feierlich-pathetischem Tonfall anhob, das sehnsuchtsvolle Gedicht „Die Fremde“ vorzutragen, in dem ein fern der Heimat weilendes Individuum in eindringlichen Worten darum ringt, an dem Umstand, sein Dasein in der Fremde fristen zu müssen, nicht vollkommen zu verzweifeln.

Erdoğans schlechter Dienst

Auch wenn Erdoğan es erneut nicht unterließ, seiner ergriffenen Anhängerschaft das Erlernen der deutschen Sprache nahezulegen, war klar, in welche Richtung seine Botschaft in erster Linie gehen sollte: Türkische Menschen im Westen müssten Ausbeutung und Ungerechtigkeit ertragen, hätten überhaupt unter widrigsten Verhältnissen zu leiden, aus denen zu befreien er allein, der starke Mann und Erretter des Ostens, in der Lage sei: „Ihr sollt mit erhobenem Haupte stehen, lasst eure Köpfe nicht hängen, wir stehen hinter euch, die Türkei ist nicht mehr alte Türkei!“

So wohltuend diese Worte für viele in Europa lebende Türken sein mögen – allfälligen Bestrebungen, sich in ihrer Wahlheimat einzuleben, erweisen sie einen schlechten Dienst. Ganz im Gegenteil, werden die Opferrolle und das Fremdsein der Türken im Ausland damit doch von höchster staatlicher Stelle geradezu geadelt.

Mit solchen nationalistisch aufgeladenen Reden wird die mühevolle Aufbauarbeit, die von vielen Migranten im Versuch, Europa zu ihrer Heimat zu machen, geleistet wurde, zunichte gemacht. Zudem wird ihre Motivation, sich wieder eher am Rand der Gesellschaft einzurichten, gefördert.

Dies umso mehr, als der Wille zu verstärkter Isolation nicht allein durch solche Reden angestachelt wird. Dazu gesellt sich die mehr als großzügige Unterstützung durch bestimmte linientreue Organisationen, die von den isolationistischen Tendenzen innerhalb der türkischen Migranten erheblich profitieren.

So werden die Maturazeugnisse für Absolventinnen von türkischen Mädchenkoranschulen in Europa in der Türkei ausgestellt; Moscheen mit antiwestlicher Prägung werden mit vom türkischen Staat bezahlten Imamen personell ausgestattet; im Interesse der AKP organisierte Veranstaltungen werden finanziell unterstützt, was ihnen jeglichen Anreiz nimmt, sich in die Mitte der Gesellschaft zu bewegen – geschweige denn, sich mit ihrer neuen Heimat zu identifizieren.

Auslandskolonien der AKP

Die Partei Erdogans versucht damit, Auslandskolonien zu errichten, um deren Infrastruktur zu gegebener Zeit für ihre politischen Zwecke in Anspruch nehmen zu können. Neben der Eroberung der Herzen türkischer Migranten führt diese Art Förderung aber auch dazu, dass neue Organisationen auf den Plan treten, die es sich zur Aufgabe machen, Isolierungstendenzen professionell zu steuern.

Dies wissen vor allem jene zahlreichen türkischen Organisationen zu schätzen, die bereits um ihren Einfluss auf die jungen Menschen bangen mussten. Ihre Attraktion war nämlich in den Augen der hier aufwachsenden jungen Menschen, die sich mit den Unterwürfigkeitsgeboten hierarchisch strukturierter Verbände nicht mehr identifizieren konnten, immer mehr geschwunden. Für sie handelt es sich bei diesen Maßnahmen also gleichsam um eine Lebensrettung in letzter Sekunde. Als Teil dieses Programms werden nicht nur Migranten als Opfer dargestellt, sondern auch die türkische Republik selbst – vor allem in Gestalt ihres Ministerpräsidenten in seinem Kampf gegen diverse verschwörerische Umtriebe.

Überall ausländische Agenten

Dieser Darstellung zufolge sind sämtliche gegen ihn gerichtete Aktionen, die ihren Ursprung wahlweise in Israel oder in Europa haben, dazu angetan, zu verhindern, dass die Türkei wieder zur Großmacht aufsteigt. Sogar hinter dem großen Grubenunglück – dies der Gipfel der Erdoğan'schen Paranoia – steckten die Agenten Israels.

Diejenigen unter den Migranten, die ihren Platz in der Gesellschaft gefunden haben oder sich ernsthaft um Partizipation in ihr bemühen, werden die großen Verlierer dieser Entwicklung sein. An deren Zukunft ist Erdoğan und seine treu ergebene Anhängerschaft nämlich überhaupt nicht interessiert. Worum es ihnen allein geht, sind der Erfolg ihrer Politik und ihr Machterhalt. Migranten sind dabei nur soweit von Interesse, wie sie für diese Politik instrumentalisiert werden können. Diesbezüglich unterscheiden sich die Berechnungen der AKP also gar nicht so von jenen europäischer Rechtsparteien.

Die europäische Reaktion sollte sich freilich nicht darauf beschränken, die Politik Erdoğans zu kritisieren oder gar seine Person zu dämonisieren. Europa braucht eine klare Linie, die es Migranten mit einem demokratischen Bewusstsein gestattet, sich als Bürger Europas zu identifizieren und so gegen Missbrauch durch verschiedene ausländische Interessen immun zu sein.

Wenn also Erdoğan aus dem Zentrum Kölns heraus der Welt mitteilt, dass er der Kanzler der Türken in Deutschland sei, sollte Europa auf diese Anmaßung entsprechend antworten – auf demokratische Weise, aber konsequent.

Fragile Loyalität

Irgendwie hat man das Gefühl, dass die europäischen Staaten in Erdogans Verhalten die Bestätigung dafür sehen, dass Europa weniger ein Integrations-, sondern ein Türkenproblem hat. Mit der Folge, dass die jahrzehntelang vernachlässigte Integrationspolitik allein dem Fehlverhalten der Türken zugeschrieben werden kann.

Damit aber wären alle bisherigen Integrationsbemühungen umsonst gewesen. Mehr denn je sind daher die türkischen Migranten selbst aufgefordert, sich gegen die Kolonisierungsversuche der neuen türkischen Politik zu wehren und sich zu dem Land zu bekennen, in dem sie leben bzw. dessen Pass sie besitzen. Identifikation mit der neuen Heimat ist und bleibt der Schlüssel, um den Kindern eine Zukunft zu geben, den eigenen Interessen Gehör zu verschaffen. Andernfalls werden sie alles verlieren, was auf mühevolle Weise und mit dem Engagement vieler Menschen erreicht bzw. aufgebaut wurde.

Eine Erschütterung der sich allmählich festigenden, aber noch immer fragilen Loyalität gegenüber der neuen Heimat würde nicht nur zu einem Verlust bestehender Rechte führen, sondern auch das Wohlergehen der heranwachsenden Generationen aufs Spiel setzen und damit gänzlich verunmöglichen, was Erdoğan fordert: erhobenen Hauptes sein Menschsein zu gestalten.

E-Mails an:debatte@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 12.06.2014)

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:


Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.