EU: Polit-Geisterbahn im Rückwärtsgang?

Die frühere positive Grundstimmung gegenüber der EU hat sich im Zuge der zahlreichen Krisen bei vielen Bürgern ins Gegenteil verkehrt. Heute dominiert das negative Vorurteil – alles Übel kommt aus Brüssel.

Alles nicht so schlimm, war nach der Wahl zum Europäischen Parlament vor einem Monat der Tenor vieler Kommentare. Stimmten doch EU-weit zwei Drittel für „Pro-EU“-Parteien. Also kann alles weiterlaufen wie bisher? Es stimmt schon, die Nationalisten werden im EU-Parlament von Austritt und Zurückerobern der nationalen Souveränität reden, aber bestimmend werden sie nicht sein. Die Zukunft der EU bleibt nach dieser Wahl dennoch düster, aus tiefer wurzelnden Gründen:
Erstens: Die magere Wahlbeteiligung belegt – zusammen mit dem Wachsen der Anti-EU-Parteien – einen weiteren Rückgang an Bürger-Unterstützung für das EU-Projekt in vielen EU-Mitgliedstaaten. Das schwächt die Union.
Zweitens: Mit dem Anstieg nationalistischer Parteien und ihren „Mein Land zuerst“-Parolen geraten viele Regierungen innenpolitisch unter Druck. Vor allem die Siege der Anti-EU-Parteien in Großbritannien und Frankreich müssen alarmieren, deren Regierungen für konstruktive EU-Politik wenig Luft bleibt. Man mag über die Achse Paris/Berlin die Nase rümpfen, aber ohne sie ginge in der EU nicht viel weiter. Die Frankreich-Säule wird in Zukunft schwächeln. Wenn aber nur Berlin dominant bleibt, entsteht eine üble Projektionsfläche für antideutsche Emotionen, wie wir sie schon in jüngsten Krisenzeiten erfahren konnten. Ob die EU so überhaupt noch zu wichtigen Entscheidungen fähig sein wird?
Drittens: Die „Vier Freiheiten“ bildeten bis vor Kurzem selbstverständliche Basis der politischen Einigung Europas. In Zeiten der Neoliberalismus-Debatte werden Marktwirtschaft und Freihandelsabkommen als solche in Frage gestellt, Protektionismus-Forderungen leben wieder auf. Der Euro wird miesgemacht, die Schengen-Freizügigkeit wollen manche wieder abschaffen. Das Horror-Bild vom EU-Superstaat wird aufgebaut, sein Rückbau verlangt – lächerlich bei einer EU ohne militärische Macht, dem Konsenserfordernis von 28 Staaten bei wichtigen Entscheidungen, einem Budget von einem Prozent des EU-BNP, 28 Kommissaren aus 28 Staaten usw. Droht da nicht eine politische Geisterbahn im Rückwärtsgang?
Viertens: Jetzt rächt sich, dass die EU-Institutionen bei ihrer Willensbildung primär das Durchsetzen untereinander bzw. gegenüber den Staaten im Auge haben und die Einbeziehung der EU-Bürger weitgehend außer Acht ließen. So kann die EU leicht als fernes Polit-Monster denunziert werden.

Für viele Bürger ist so der Sinn der EU verblasst. Lange Zeit lebte die EU von einem positiven Vorurteil, getragen vom wirtschaftlich-sozialen Aufschwung, dem Freiheitsgewinn durch Niederreißen von Grenzen etc. Diese Grundstimmung hat sich im Zuge der Krisen ins Gegenteil verkehrt: Heute dominiert ein negatives Vorurteil. Alles Übel komme aus Brüssel, obwohl viele Schwächen der EU auf der Halbherzigkeit der Mitgliedstaaten bei der Integration beruhen beziehungsweise sie selbst Ursache der Krisen waren und sind.

Was zu tun wäre

Das ursprüngliche Selbstverständnis der Unverzichtbarkeit der politischen Integration ist verloren gegangen. Der Verweis auf das Friedensprojekt reicht heute nicht mehr, um den Schaden für alle abzuwehren, sollte sich Marine Le Pens Maxime „Mein Vaterland zuerst“ oder David Camerons „Zurück zum Binnenmarkt“ durchsetzen. Ohne politische Identifikation der Menschen mit der EU neben ihrer nationalen Identität droht der EU ein Rückfall, der nur schwer wieder aufzuholen wäre. Deshalb müssen jetzt die Verantwortlichen für eine Reihe von Kurskorrekturen sorgen:

Erstens: Die auf 28 Staaten erweiterte EU hat es nicht geschafft, über institutionelle Reformen oder eine Verfassung klare Aufgabenteilung und demokratische Strukturen zu schaffen. Wo das hinführt erleben wir gerade: Zuerst wird der positive Schritt des Lissabonner Vertrags beworben, mit der EU-Wahl werde auch die Kommissionspräsidentschaft bestimmt, dann droht ein Mega-Desaster, weil manche Regierungen unter Berufung auf ebendiesen Vertrag sich nicht an dieses Wahlversprechen halten wollen. Zur Beseitigung solcher Unklarheiten bedarf es vor allem eines EU-weiten Wahlrechts mit europäischen Listen für die Europa-Wahl, damit diese nicht mehr zu reiner Innenpolitik missbraucht werden kann.

Zweitens: Es bedarf einer konstanten, überzeugenden Kommunikation des „Warum EU“, die das Bewusstsein festigt, wie sehr es einer gemeinsamen EU-Politik bedarf, soll es wenigstens eine Chance zur Lösung der großen Probleme in den Bereichen Wirtschaft, Soziales, Sicherheit, Umwelt, Energie, Verkehr, Migration usw. geben.

Ebenso muss es zu einem Ende des fatalen Versagens von EU und EU-Staaten bisher bei der Kommunikation der konkreten EU-Politik kommen. Siehe das groteske Glühbirnen-Beispiel: Natürlich kommt es als Brüssel-Irrsinn an und lässt sich glänzend zu Anti-EU-Kampagnen missbrauchen, wenn nicht zuerst das elementare Problem der Energie-Effizienz kommuniziert wird und es deshalb neben vielen anderen Maßnahmen letztlich auch um Glühbirnen geht.

Die Kommunikation der Probleme, der Lösungsalternativen dafür und schließlich der Entscheidungsgründe gehört zur Basis jeder Demokratie. Diese Bringschuld hätten zuallererst die EU-Institutionen, ihre Außenstellen in den Mitgliedsländern und die nationalen Minister als Mitglieder des EU-Rates zu erbringen, neben den Parlamentariern auf EU- und nationaler Ebene.

Dem muss auch eine Medienpolitik dienen, die die EU-Kommunikation beispielsweise zu einem qualitativen Kriterium von Medienförderung macht und die die Informationspflicht des öffentlich-rechtlichen Rundfunks in diesem Bereich sicherstellt.

EU-Projekt im Teufelskreis

In diesem Zusammenhang sei auch auf den speziellen Bedarf an politischer Bildung in Sachen EU hingewiesen, handelt es sich bei der EU doch um ein junges, unfertiges, schwer verständliches politisches Phänomen mit vielen offenen Fragen.

Ohne eine wesentliche Verbesserung des Grundwissens über die EU kann sich ein europäisches Bürger-Bewusstsein beziehungsweise ein Mitbestimmungsbedürfnis nur schwer entwickeln.

Die Europa-Wahl 2014 hat die Gefahren für die EU unübersehbar gemacht. Das EU-Projekt kann nur mit Unterstützung der Bürgerinnen und Bürger gelingen, die sie allerdings nur über positive Wirksamkeit erreichen kann. Dafür sind wiederum Reformen und ein „Mehr“ an EU notwendig, die ohne demokratische Unterstützung nicht möglich sind. Ein Teufelskreis, in dem das EU-Projekt zerrieben werden kann.

Deshalb muss sich neben den Regierungen und Parteien auch die EU-befürwortende Zivilgesellschaft, also die Bürger, über Partei- und Gruppengrenzen hinweg einsetzen und zum Aufbau einer europäischen politischen Identität der Menschen beitragen.

Es ist höchste Zeit dafür!

E-Mails an:debatte@diepresse.com

DER AUTOR



Friedhelm Frischenschlager
(*1943 in Salzburg) studierte Rechtswissenschaften. Er begann 1972 seine politische Karriere bei der FPÖ, war Verteidigungsminister von 1983 bis 1986. Mitbegründer des Liberalen Forums (1993). Seit 2007 Bundesvorsitzender der Europäischen Föderalisten Österreichs. [ APA ]

("Die Presse", Print-Ausgabe, 25.06.2014)

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