Allmacht oder Ohnmacht des Mario Draghi

Die EZB und die Zentralbanken gelten heute gleichsam als Masters of the Universe. Ein fataler Fehlschluss.

Der römische Historiker Livius berichtet von stark steigenden Getreidepreisen in Rom im Jahr 67 vor Christus, die ernste soziale Unruhen auslösten. Grund für die explodierenden Getreidepreise waren Piraten im südlichen Mittelmeer, die immer mehr Getreideschiffe aus Nordafrika kaperten. Als die Lage untragbar wurde, beauftragte der römische Senat Pompeius, diesem Problem Herr zu werden.

Unmittelbar nach diesem Beschluss stürzte der Getreidepreis ab, und das, ohne dass ein einziges Kriegsschiff ausgelaufen wäre! So groß war die Reputation von Pompeius, der den Erwartungen gerecht wurde. In nur drei Monaten räumte er mit den Piraten auf.

Das war vor über 2000 Jahren. Und heute? Heute ist es Mario Draghi, der Präsident der Europäischen Zentralbank (EZB), der mit seiner Bemerkung vor zwei Jahren, alles unternehmen zu wollen, um den Euro zu retten, im Juli 2012 das entscheidende Signal gegeben hat, das die Finanzmärkte beruhigt hat. Seitdem sind die Zinsen auf den Märkten für Staatsanleihen für die Euro-Problemstaaten dramatisch gefallen – zum Teil sogar deutlich unter das Niveau vor der Krise!

Krisenursachen nicht beseitigt

Kein Wunder: Draghis Botschaft an die Finanzmärkte war, dass die EZB genauso hinter den Staatsschulden der Problemländer steht, wie sie Banken mit jeder Menge gewünschter Liquidität zu einzigartig günstigen Zinsen versorgt (die diese Finanzspritzen vor allem dazu verwendet haben, Staatsanleihen zu kaufen).

Zwar ist es der EZB damit gelungen, die akute Phase der Eurokrise zu beenden, ihre Ursachen konnte und kann sie freilich nicht beseitigen. Denn Draghi ist eben nicht Pompeius und hat weder die entsprechenden Ressourcen noch Instrumente. Allerdings hat die von der EZB betriebene in Art und Umfang einzigartige Versicherungspolitik mehrere äußerst gefährliche Nebenwirkungen.

Zunächst einmal konterkariert sie die Bemühungen der EZB um eine höhere Inflation im Euroraum. Denn diese EZB-Versicherung („alles zu tun“) macht europäische Staatspapiere, gerade jene der Problemländer, auch für ausländische Anleger attraktiver. Der Kapitalzustrom in die Eurozone ist enorm gestiegen und eine Ursache für den nach wie vor harten Euro, der die Importpreise gering hält und, gemeinsam mit der lahmen Konjunktur, auf die Inflation in der Eurozone drückt.

Aufgrund der Politik der EZB ist die Kluft zwischen Realwirtschaft und Finanzwirtschaft noch größer geworden. Denn sie hemmt die notwendigen Anpassungen in der Realwirtschaft wie in öffentlichen Haushalten, beflügelt indes die Finanzmärkte. Die Bewertungen von Vermögensgütern aller Art, insbesondere von Aktien und Anleihen, haben mit realwirtschaftlichen Grundlagen in den meisten Fällen nichts mehr gemein: Vermögenspreisblasen allerorten! Die Finanzwirtschaft ist wieder dort, wo sie vor der Krise war, nämlich auf einem Hochseil, das sie nur deshalb erklimmt, weil die EZB die Zinsen extrem niedrig hält und – in der Erwartung der Finanzmarktakteure – zugleich die Versicherung für den Fall des Absturzes bereithält.

Demgegenüber geht in der Realwirtschaft auch deshalb nichts weiter, weil aufgrund der „Null-Zins-Politik“ der EZB viele Unternehmen, aber auch viele Banken und einige Staatshaushalte überleben können, die unter „normalen Zinsbedingungen“ längst pleitegegangen wären. Die Zombies sind mitten unter uns, enorme Mittel bleiben in ineffizienten Verwendungen gebunden. Zugleich bekommen Klein- und Mittelbetriebe wie Start-ups in den Peripherieländern keine Kredite. Gerade auch dieses Problem, dass das viele Geld der EZB bei Klein- und Mittelbetrieben nicht ankommt, kann die EZB mit ihrer Politik nicht lösen. Auch das hemmt das Wachstum.

Erfolgreiche Brandbekämpfung

Trotz aller Streitereien unten den Ökonomen in Bezug auf die Krisenursachen herrscht doch überwiegend Einigkeit darüber, dass ein Hauptgrund in der Fehlbepreisung von Risiko gelegen ist. Die viel zu geringen Risikoprämien, vor allem, aber nicht nur für Staatspapiere, erleben wir jetzt wieder. Dafür trägt die EZB die Hauptverantwortung. Zugegeben, auch für die „erfolgreiche Krisenbekämpfung“ bzw. – genauer gesagt – für die erfolgreiche Brandbekämpfung.

Dass die Zentralbanken effektiv mitgeholfen haben, einen Komplettabsturz der Weltwirtschaft zu verhindern, und gerade die EZB den drohenden Zerfall der Eurozone verhindert hat, verleitet zur fatalen Illusion, dass mit dem „Brand-aus!“ auf den Finanzmärkten auch die Brandursachen beseitigt wären.

Viele politische Akteure meinen, die Krise sei vorbei, und glauben, die dringend notwendigen, aber politisch schmerzhaften Reformen vermeiden zu können. Sie verweisen auf die Finanzmärkte, die über markant gefallene Zinsen für die Staatsanleihen eine verbesserte Bonität suggerieren.

„Die werden es schon richten“

Doch diese beruht auf geldpolitischen Manipulationen, die zwar, wie gesagt, die akute Phase der Eurokrise beendet, nicht aber die Ursachen der Eurokrise beseitigt haben. Politiker und Finanzmarktakteure schauen auf die Zentralbanken und erwarten, dass „die es schon richten werden“.

An dieser ebenso irrigen wie gefährlichen Erwartungshaltung sind die Zentralbanken selbst schuld. Sie haben schon in den Jahren vor der Krise die relativ stabile Wirtschaftsentwicklung als Ergebnis ihrer klugen Politik ausgegeben, sich als Architekten monetärer Stabilität und soliden Wirtschaftswachstums feiern lassen, de facto aber mit ihrer viel zu expansiven Politik den Boden für die Krisen bereitet. Sie haben Finanzwirtschaft und Ökonomien schon einmal beziehungsweise mehrmals vor dem Absturz bewahrt, also werden sie es wieder tun! Die Zentralbanken gelten heute als die eigentlichen Masters of the Universe. Ein fataler Fehlschluss, der völlig irrige Erwartungen nährt.

Doch sie stehen mittlerweile mit dem Rücken zur Wand: Noch nie wurden derart gewagte geldpolitische Mittel in einem derartigen Umfang eingesetzt! Noch nie war der geldpolitische Stimulus so gewaltig und zugleich die Kreditnachfrage wie Konjunktur so schwach: Der reale Output der Eurozone liegt derzeit um drei Prozent unter dem Vorkrisenniveau!

Draghi ist nicht Pompeius

Noch nie waren die Zinsen so niedrig und zugleich die Investitionen so gering: Sie liegen in der Eurozone fast um 20Prozent unter dem Vorkrisenniveau. Noch nie war der Reformstau (nicht nur in Österreich) so hoch. Kein Wunder also, wenn die bescheidenen Wachstumsprognosen für die Eurozone selbst von den Zentralbanken wieder zurückgenommen wurden.

Mario Draghi ist also nicht Pompeius. Doch vielleicht sind die Politiker selbst die Piraten, weil sie es sind, die durch Reformverweigerung das Wachstum abdrehen, zugleich geschickt die Erwartungen an sich selbst minimieren, die Erwartungen an die EZB indes in absurde und damit gefährliche Höhen getrieben haben. Die vermeintliche Allmacht der EZB könnte sich rasch in Ohnmacht auflösen!

DER AUTOR

E-Mails an:debatte@diepresse.com


Ferry Stocker
(*1961 in Lienz) studierte Handelswissenschaften und
Volkswirtschaft an der Wirtschaftsuniversität Wien. Er ist Fachbereichsleiter für Volkswirtschaftslehre an der Fachhochschule Wiener Neustadt.

Sein jüngstes Buch: „Zahltag. Finanz- und Wirtschaftskrise und ökonomische Prinzipien“. [Privat]

("Die Presse", Print-Ausgabe, 07.08.2014)

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