Aufstand der Hungrigen

Ein „stiller Tsunami“ könnte bis zu 130 Millionen Menschen dem Hunger ausliefern. Wir haben die Mittel, um das zu verhindern: Ein Fünf-Punkte-Programm gegen den Tod.

So einen Gipfel hat die Welt noch nicht gesehen: Vor wenigen Monaten stand nur die Idee im Raum, eine Fachkonferenz von Ernährungsexperten einzuberufen. Nun ist daraus in Rekordzeit ein „Gipfel zur Welternährung“ geworden: Über 40 Staats- und Regierungschefs diskutieren, warum der Welt das Essen ausgeht. Was ist da geschehen? Ein neues Phänomen geht um die Welt: „Food riots“, Aufstände von Hungrigen, brechen von Mexiko über Senegal bis nach Pakistan aus. Sicherheitsexperten nennen Nahrungsmangel als Friedensrisiko in einem Atemzug mit Rohstoffen wie Wasser und Öl. Laut Weltbank könnte ein „stiller Tsunami“ über 100 Millionen Menschen dem Hunger ausliefern, das UN World Food Programme geht sogar von bis zu 130 Millionen aus. Denn Nahrungsmittel sind so rasant teurer geworden wie nie.

Halbes Essen, keine Schule mehr

Allein zwischen März 2007 und 2008 sind die globalen Getreidepreise im Schnitt um 86 Prozent gestiegen. Beispiel Bangkok: Noch im März letzten Jahres kostete die Tonne Reis keine 300 Dollar. Ein Jahr später liegt sie bei rund 1200 Dollar. Die Folgen sind verheerend: Arme Familien mussten schon bisher zwei Drittel und mehr ihres Einkommens für Essen ausgeben. Kostet dies plötzlich das Doppelte, ist die Katastrophe programmiert – außer wir tun etwas dagegen.

Fünf Herausforderungen sind zu meistern: 1.Kurzfristig brauchen die Menschen akute Nothilfe. Sie sind mit einem „neuen Gesicht des Hungers“ konfrontiert – sie sehen oft genug Essen in den Läden, aber sie können es nicht mehr bezahlen. Gleiches gilt zum Beispiel für das UN World Food Programme (WFP), das auch als größte humanitäre Organisation der Welt die explodierten Marktpreise bezahlen muss. Die Gelder, mit denen WFP beispielsweise plante, die Tassen von 20 Millionen armen Kindern in diesem Jahr zu füllen, reichen nur noch für gut halb gefüllte Becher – in denen zugleich oft die einzige Tagesmahlzeit der Kinder steckt.

2.Die beste Nothilfe ist zugleich eine Investition in die Zukunft. Wenn Millionen neuer Menschen sich kein Essen leisten können, ist offenkundig, dass auch Entwicklungsländer einfachste soziale Netze benötigen. Andernfalls wird die Ernährungskrise viele Entwicklungserfolge der letzten Jahrzehnte zerstören, auch was Gesundheit und Bildung von Millionen Menschen anbelangt. Beispiel Schulspeisungen: Immer mehr Arme könnten in der Not bald ihre Kinder aus der Schule nehmen, damit sie zuhause mitarbeiten. So werden sie den Teufelskreis aus fehlender Bildung und Hunger neu beginnen – außer wir helfen ihnen jetzt: Simple soziale Netze wie Schulspeisungen führen zu deutlich höheren Einschulungsraten und besserer Gesundheit. Kommen Mädchen regelmäßig zur Schule, erhalten auch ihre Familien etwas Unterstützung. So können sie den Teufelskreis des Hungers durchbrechen.

Agrarrevolution steht bevor

3.Die größte Herausforderung liegt in der Landwirtschaft selbst: Eine Agrarrevolution steht an. Wir müssen das Angebot an Nahrungsmitteln erhöhen. Zum einen müssen wir dafür sorgen, das Nahrungsmittel wirklich zu Essen werden. Die industrielle Verarbeitung von Getreiden, z.B. zu Biosprit, ist seit 2000 um 38 Prozent gestiegen, die Industriestaaten müssen ihre Biosprit-Politik überprüfen. Zum anderen ist ein massiver Ausbau des Nahrungsangebots nötig, vor allem in den Entwicklungsländern selbst. Drei Viertel der Hungernden weltweit leben auf dem Land. Dort ist zugleich das Potenzial für einen Boom am größten: Afrikanische Kleinbauern holen im Vergleich zu österreichischen Bauern meist nur ein Zehntel der Ernte aus einem Hektar Land. Das Potenzial ist also riesig und kann mit einfachsten Hilfen wie Kleinkrediten und Werkzeugen genutzt werden.

4.Dies erfordert zugleich eine neu ausgerichtete Entwicklungspolitik. Die Landwirtschaft ist seit langem das Stiefkind der Entwicklungspolitik: Lag der Anteil der Hilfe für den ländlichen Raum noch vor 25 Jahren bei 17 Prozent, so ist er heute auf vier Prozent gesunken. Auch die afrikanischen Staaten haben zugesagt, zehn Prozent ihres Haushaltsbudgets in die Landwirtschaft zu investieren – nur wenige tun dies bisher. Gelingt hier die Wende, könnte die Krise sich als einmalige Chance entpuppen.

Erfolgschancen sind groß

5. Um diese Chance zu nutzen, muss auch künftig die Welternährung eine ganz neue Priorität bekommen – wie beim Welternährungsgipfel in Rom. Welch Möglichkeiten sich dann bieten, verdeutlicht ein langfristiger Trend: Trotz aller genannten Schwierigkeiten, trotz abgeschotteter Agrarmärkte im Norden, trotz einer rasant zunehmenden Zahl von Konflikten und Naturdesastern ist ein gigantischer humanitärer Erfolg gelungen: Noch 1970 litten 37 Prozent der Weltbevölkerung Hunger. Heute sind es noch rund 13 Prozent. Wir haben also alle Mittel in der Hand, den Hunger zu besiegen – und den drohenden Tsunami in einen Aufbruch verwandeln.

Ralf Südhoff leitet das UN World Food Programme (WFP) für Österreich, Deutschland und die deutschsprachige Schweiz. WFP ist die größte humanitäre Organisation der Welt und für die Nahrungsmittelhilfe der Vereinten Nationen verantwortlich.


meinung@diepresse.com("Die Presse", Print-Ausgabe, 05.06.2008)

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:


Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.