Flucht nach innen vor den globalen Problemen

Ist das österreichische Boot voll? Studien zeigen, dass die Aus- und Abgrenzung von Gesellschaften zu Stagnation führt.

Auf Facebook war Ende September ein Video zu sehen, das eine Autofahrt an einem Mittelmeerstrand zeigt. Keine gewöhnliche Kamerafahrt. Unter wolkenlosem Himmel lagen da angeschwemmte Körper im Sand, umspült vom Meerwasser, auf einem Abschnitt von mehreren hundert Metern: junge Männer, Frauen, auch Kinder – tot. Nur wenige Minuten später war das Video gelöscht, wie viele andere Zeugnisse solcher Vorfälle, die der westlichen Öffentlichkeit offenbar nicht zumutbar sind.

Auf dem Semmering fand zur gleichen Zeit eine Protestversammlung wütender Bürger gegen die vorübergehende Unterbringung von syrischen und irakischen Flüchtlingen in einem Hotel statt. Zur Sorge von Frauen, dass hier nur Männer untergebracht werden und keine Familien, kam die Urangst vor der schleichenden Überfremdung brutal zum Vorschein. „Nicht nur Steinhaus, sondern ganz Österreich braucht keine Flüchtlinge“, erklärte ein älterer Herr im Steireranzug, unter dem tosenden Applaus der Anwesenden.

In einem anderen von der Natur verwöhnten Urlaubsgebiet Österreichs, in der Nockregion in Kärnten, wurde im Sommer eine Vorschau auf die Bevölkerungsentwicklung bis 2030 geliefert. In den nächsten 15 Jahren, so der Demografie-Check der Universität für Bodenkultur, werde die Region bis zu 20Prozent ihrer Bevölkerung durch Geburtenrückgang, Überalterung und Abwanderung in die Ballungsräume verlieren. Das bedeutet: Weitere Bauernhöfe sterben, Schulen werden schließen, Gasthöfe zusperren.

Angst vor Veränderung

Nicht nur in der Nockregion, auch in anderen Regionen Österreichs, insbesondere in den Randgebieten, verwaist die Infrastruktur. Die österreichische Leerstandskonferenz des Architektenbüros Nonconform brachte es auf den Punkt: Die Zurückgebliebenen sind mit immer höheren Kosten der Erhaltung konfrontiert, bei sinkenden Steuereinnahmen. Auch leerstehende Häuser verursachen Kosten. Dabei könnten diese viel Platz für Menschen bieten, die auf der Flucht vor Krieg, Verfolgung und Hunger ein neues Zuhause suchen – und für Belebung der bedrohten Infrastruktur sorgen.

Was aber ist die Reaktion? Was sind die Antworten? Flüchtlinge werden in Containern verwahrt, hinter Stacheldraht interniert, wie Kriminelle in Auffanglager gesteckt. Wenn sie illegal in Zügen aufgegriffen oder halb erfroren aus Kühlwagen gezogen werden, können sie mit der sofortigen Abschiebung rechnen.

Dürfen sie bleiben, wird ihnen die Arbeit verwehrt, weil dies gegen das Ausländerbeschäftigungsgesetz verstößt. Sie haben keine Chance auf legalen Broterwerb und erhöhen so die (Drogen-)Kriminalität. Sie dürfen sich nicht von dem ihnen zugewiesenen Ort entfernen, werden an Nasenringen und mit Fußfesseln durch die Medien geschleift und vertiefen so die Vorurteile in der Öffentlichkeit.

Dabei sind wir in Europa selbst auf der Flucht. Gesättigt von Jahrzehnten des Friedens und des Wohlstands flüchten wir in eine vermeintlich heile Parallelwelt auf der viel gepriesenen Insel der Seligen und verlieren dabei den Blick für die Schattenseiten dieses Reichtums, für jene Länder der Welt, die dafür die Zeche zahlen.

Wir laufen vor den globalen Problemen davon, die wir zum Teil mitverursacht haben. Wir schieben die Schuld jenen zu, die nur ihr Leben retten wollen und scheuen selbst die Verantwortung, aus purer Angst vor Veränderung. Die Politiker werden dann gern für die Misere verantwortlich gemacht. Aber die sind bloß ein Spiegelbild der Gesellschaft.

Integration statt Ausgrenzung

Schon der griechische Philosoph Heraklit wusste: Die einzige Konstante im Universum ist die Veränderung. In einem Ö1-Interview hat die Gerichtsgutachterin für forensische Psychiatrie, Adelheid Kastner, dazu kürzlich interessante Gedanken entwickelt. Wenn das ganze Leben im Fluss und Veränderung das Natürlichste der Welt sei, dann seien Menschen, die sich dagegen sträuben, von Grund auf böse. Kastner macht dies etwa an Gewalttätern fest, die sich mit Mord und Totschlag rächen, wenn sie von ihrer Partnerin verlassen werden. Konsequent durchdacht muss das dann wohl auch für alle Menschen gelten, die sich – auch mit Gewalt – gegen jede Veränderung ihrer Lebensumstände wehren.

Zukunftsforscher berichten, dass die Generation Golf und deren Kinder es verlernt haben, Verantwortung für die Gemeinschaft zu übernehmen. Work-Life-Balance, lustbetontes Leben, Egoismen und persönliche Unabhängigkeit sind wichtiger als Gemeinschaft, Fürsorge und Nächstenliebe. Nur noch das Ich zählt, das Ego, die Selbstverwirklichung des Einzelnen – und niemand will mehr Kompromisse eingehen.

Der Selfie-Wahn

Die Menschen vereinsamen auf diese Weise, soziale Kontakte reißen ab. „Der Selfie-Wahn macht Beziehungen kaputt“, haben Forscher von der Birmingham Business School kürzlich herausgefunden. Facebook macht Menschen zu Autisten, wie wir inzwischen wissen, der viel gerühmte Dialog findet woanders statt.

Umgekehrt zeigen alle bekannten Forschungsergebnisse, dass Engagement für die Gemeinschaft, ehrenamtliche Tätigkeiten, die Übernahme von Aufgaben für benachteiligte und ausgegrenzte Menschen in allen Kulturen und Gesellschaften höchstes Glück und Zufriedenheit schaffen und zudem Anerkennung bringen.

Ebenso zeigen alle bekannten Studien, dass wirtschaftlich und politisch prosperierende Gesellschaften von der Fähigkeit zur sozialen Integration und ständigen Veränderung profitieren, und nicht von Aus- und Abgrenzung, die in die Stagnation führt. Die Flucht nach innen kann keine Lösung für eine offene und zukunftsorientierte Gesellschaft sein.

Es geht also nicht nur um die Frage des menschenwürdigen Umgangs mit Flüchtlingen und Asylwerbern aus den Kriegsgebieten, sondern auch um unsere eigene Zukunft. Das Drama an der Südgrenze Europas wird in den nächsten Jahren eine der zentralen Herausforderungen für die EU und jedes einzelne Mitgliedsland. Mit Verantwortung abschieben und Augen verschließen kann ihr nicht begegnet werden.

Die Zäune nieder

Jeder ist betroffen, und jeder Einzelne kann helfen, dass der notwendige Dialog und die Integration in Gang kommen. Damit Integration funktioniert, dürfen keine neuen Grenzen oder Ghettos entstehen. Der Flüchtlingsansturm, Ergebnis vieler globaler Fehlentwicklungen, ist nun einmal Faktum und kaum zu ändern.

Die Ankömmlinge müssen daher, egal, warum und woher sie kommen, aufgenommen werden. Kommunen und Betriebe sollen definieren, welche Leute mit welchen beruflichen Fertigkeiten sie brauchen können; Hausbesitzer, wie sie etwaige ungenützte Flächen verfügbar machen können. Kindergeschrei und kulturelle Vielfalt sind allemal besser für die Zukunft eines Landes als leerstehende Häuser und verwaiste Höfe.

E-Mails an: debatte@diepresse.com

DER AUTOR



Dr. Wilfried Seywald
ist Kommunikationsberater und Medienunternehmer in Wien, Berlin und Zürich. Er ist Gründer der Nachrichtenagentur Pressetext und Impulsgeber für Projekte im öffentlichen Bereich. Für
das Kulturzentrum Fresach in Kärnten bereitet er gerade die ersten „Europäischen Toleranzgespräche 2015“ vor. [ Privat ]

("Die Presse", Print-Ausgabe, 14.10.2014)

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