Vom Kemalismus nicht mehr viel übrig

Die Türkei ist auf unabsehbare Zeit keine rechtsstaatliche Demokratie.

Fußball, Ferien und Festivals haben fast überdeckt, dass in der Türkei eine finale Machtprobe zwischen Islamisten und Kemalisten ihrem Höhepunkt entgegensteuert, der auch Europa zu erschüttern droht. Was da nach draußen dringt, je nach Einschätzung des Reporters ein „geplanter Staatsstreich“ oder ein „Putsch der Justiz“, es zeigt in beiden Fällen, wie wenig die Türkei mit dem zivilisierten Europa zu tun hat.

Da ist auf der einen Seite die Verschwörergruppe „Ergenekon“, der die Bildung einer Terrororganisation vorgeworfen wird – sie wird beschuldigt, Chaostage geplant zu haben, um gegen Ministerpräsident Erdogan putschen zu können. Dass man Details über dieses Unternehmen in der Zeitung „Taraf“ lesen konnte, einem Sprachrohr Erdogans, macht die Sache nicht unbedingt glaubwürdiger. Immerhin sind inzwischen 86 Personen inhaftiert oder zumindest angeklagt. Mit nur wenig Fantasie kann man sich vorstellen, dass der Premier seine Freude daran hat, wie hier seine Gegner diskreditiert werden.

Denn er selbst ist längst ins Fadenkreuz der Justiz geraten. Seiner „Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung“ (AKP) wird vorgeworfen, einen islamistischen Staat auf der Grundlage der Scharia installieren zu wollen. Dass dies nicht aus der Luft gegriffen ist, wusste schon der 2007 ausgeschiedene Staatspräsident Sezer. Als Erdogan überlegte, ob er selbst Präsident werden wolle, warnte Sezer, dann drohe der Türkei ein Systemwechsel, hin zu einer islamischen Republik.

Und so wird nun demnächst das Verfassungsgericht entscheiden, ob die AKP verboten wird oder nicht. Ungewöhnlich ist das in der Türkei keineswegs: In den Jahren von 1961 bis 2007 wurde 34 Mal eine Partei verboten, in 46 Jahren also fast in jedem Jahr eine. Nach europäischem Demokratieverständnis (aber dies spielt hier keine Rolle!) ist auch die AKP alles andere als eine demokratische Partei – hier bestimmt der Parteivorstand, wer als Delegierter auf dem Parteitag stimmberechtigt ist, hier werden regionale Wahlergebnisse annulliert, hier werden Bezirksvorstände einfach abgesetzt, wenn sie Erdogan nicht in den Kram passen.

Auf dieser Linie liegt auch die Verhaftungswelle, mit der Erdogans Gegner ausgeschaltet werden sollen. Dass nun auch hohe Offiziere festgenommen wurden, soll dem Militär offenbar zeigen, dass die Verteidigung des Laizismus bereits eine strafbare Handlung sein kann. Angesichts der von der AKP initiierten Stimmung im Lande, angesichts von Kundgebungen mit mehr als 50.000 Teilnehmern, die einen Scharia-Staat verlangen, ist vom Kemalismus sowieso nicht mehr viel übrig. Gerhard Dunker, seit vielen Jahren evangelischer Pfarrer in Istanbul, kennt die Lage bestens: „Der Laizismus war doch nie Wirklichkeit. Die Türkei hat ein ,Amt für Religiöse Angelegenheiten‘ mit rund 90.000 Mitarbeitern. Dazu gehören alle Imame, auch die in Deutschland. Sie alle sind Staatsbeamte. Ich kann einem Staat mit einem solchen Amt nicht abnehmen, er halte es mit einer strikten Trennung von Staat und Religion.“

Strikte Islamisierung vorangetrieben

Totale Überwachung, das gilt nicht nur für die Religion, das gilt auch für die Medien. Wie in Sachen Religion gibt es auch hier eine riesige Behörde, „Radio ve Televiyzon Üst Kurlu“ (RTÜK), die alle Radiostationen und Fernsehsender 24 Stunden täglich überwacht. Da wurden schwere Strafen ausgesprochen für „unmoralische Szenen“, für kurdischsprachige Programme, es wurden Kabarettsendungen verboten genau wie Auftritte von Transvestiten. Erdogan ungerührt: „Wir wollen nicht, dass unserer Jugend falsche Rollenmodelle nahegebracht werden.“ Medienfreiheit auf Türkisch?

Zugegeben, die Regierung Erdogan hat wirtschaftliche Reformen erfolgreich umgesetzt, hat die Inflation bekämpft und einige (wenige) Verfassungsgrundsätze der Europäischen Union angepasst. Aber sie hat andererseits eine strikte Islamisierung vorangetrieben – von Erdogans „gemäßigter“ Haltung, die im leichtgläubigen Europa immer wieder verbreitet wird, kann keine Rede sein. Eine Gleichberechtigung der Frau steht nur auf dem Papier, und wenn eine AKP-Stadtverwaltung an Frischvermählte eine Schrift verteilt, die in Wirklichkeit ein Propagandapamphlet für den islamischen Gottesstaat ist (in der erklärt wird, der Ehemann dürfe seine Frau schlagen, er müsse nur darauf achten, dass dies keine Spuren hinterlasse!), dann sagt dies mehr als alle offiziösen Verlautbarungen.

Nein, die Türkei ist auf unabsehbare Zeit keine rechtsstaatliche Demokratie, auch wenn Erweiterungskommissar Olli Rehn das Gegenteil behauptet. Die breite Skepsis gegenüber der EU hat vielleicht auch damit zu tun, dass Rehn und andere Ignoranten die Bürger für unmündiges Stimmvieh halten.

Prof. Detlef Kleinert begann seine berufliche Laufbahn beim Bayerischen Fernsehen. Er war unter anderem Südosteuropa-Korrespondent der ARD in Wien.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 19.07.2008)

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