Georgien gestraft, der Westen bloßgestellt

Russlands Kalkül, dass die Kosten eines Kriegs in Georgien geringer sein würden als die Vorteile, hat sich bestätigt.

Durch die militärische Eskalation in Georgien hat Russland mehrere strategische Ziele erreicht. Abchasien und Südossetien sind Georgien dauerhaft entzogen, die militärische Präsenz Russlands in den Regionen wird erhöht, und „Rumpfgeorgien“ bleibt als Ergebnis zurück. Die völkerrechtliche Anerkennung der sezessionistischen Regionen ist aber weiterhin nicht zu erwarten, die faktische Annexion ist allen russischen Interessen dienlich; bei einer Anerkennung könnte Russland seine Ablehnung der kosovarischen Staatlichkeit nicht aufrechterhalten.

Zweites Ziel war die Bloßstellung der Inhaltsleere westlicher Schutzversprechen. Moskau hat deutlich gemacht, dass Nato und USA einen militärischen Konflikt mit Russland nicht riskieren. „Mourir pour Tbilissi“ bleibt Fiktion. Das wird auch in Kiew nicht unbemerkt geblieben sein. Beteuerungen, Georgien könne weiterhin Mitglied der Allianz werden, sind wortreiche Gesten, aber in der Substanz wertlos. Allerdings ist zu erwarten, dass die USA die bilaterale Militärhilfe an Georgien verstärken werden.

Ein Signal an die Nato

Das dritte Ziel war die Demonstration konventioneller militärischer Überlegenheit in der Region. Russland hat nicht nur den politischen Willen, sondern auch die militärische Fähigkeit zur bewaffneten Intervention in den Nachbarstaaten demonstriert.

Das vierte, allerdings nachgeordnete strategische Ziel war die Schwächung Georgiens als Transitland für Öl und Gas. Dies betrifft nicht die seit 2005 betriebene Ölleitung BTC von Baku zum türkischen Ceyhan, sondern zwei andere Projekte: zum einen den Transport kasachischen und aserbaidschanischen Rohöls nach Kulevi, Batumi und Supsa an der georgischen Schwarzmeerküste. Dadurch hatte sich Kasachstan eine alternative Ölexportroute eröffnet; bislang war das Land fast ganz auf die Leitung zum russischen Schwarzmeerhafen Novorossisk angewiesen. Dieses Vorhaben wird nun deutlich verlangsamt. Zum anderen dürfte der Plan, kaspisches Erdöl über Georgien und das ukrainische Odessa nach Polen zu transportieren (Sarmatia-Leitung) erheblich verzögert werden.

Insgesamt setzte Russland ein Signal, dass die (perzipierte) Demütigung des Landes durch die Erweiterung der Nato, die Missachtung russischer Interessen auf dem Balkan, den Aufbau eines Raketenabwehrsystems in Polen und Tschechien, die Errichtung von Militärbasen der USA in Bulgarien und Rumänien und das Unterlaufen der russischen Vetomacht im Sicherheitsrat der UN (Kosovo 1999, Irak 2003) nicht mehr fortgesetzt werden dürfen. Russland zeigt Ansätze, eine nachhaltige Roll-back-Strategie zu verfolgen; zumindest aber ist eine „rote Linie“ gezogen.

Zugleich hat der georgische Militärschlag den strategischen Spielraum von Nato und EU erheblich beschädigt. Die Gräben innerhalb der Allianz über die Gestaltung der Beziehungen zu Georgien und der Ukraine haben sich vertieft; während die USA, Polen und die baltischen Staaten betonen, die von Deutschland und Frankreich beim Nato-Treffen im April blockierte Annäherung Georgiens habe die militärische Aggression Russlands geradezu provoziert, sehen sich Deutschland und Frankreich bestätigt.

Mit ungelösten Territorialkonflikten und Saakaschwili als unberechenbarem, weil impulsivem und beratungsresistentem Führer wäre das Risiko, in einen Militärkonflikt mit Russland verstrickt zu werden, zu groß. Ein Konsens der Bündnismitglieder über die Ausdehnung der Nato nach Georgien scheint ausgeschlossen. Möglich aber ist eine bilaterale Schutzverpflichtung der USA an Rumpfgeorgien als „major non-Nato ally“. Dies wäre der Kohäsion in der Nato nicht dienlich und würde die US-Linie fortsetzen, jenseits der Beistandspflicht nach Art. 5 des Nato-Gründungsvertrages bilaterale Sicherheitsabkommen einzugehen.

Der Krieg hat auch die Kluft innerhalb der EU über die Gestaltung der Beziehungen zu Russland vertieft. Die Russland-Strategie der EU wird entweder einer radikalen Revision unterzogen, wie die östlichen und skandinavischen Staaten, angeführt von Großbritannien, fordern, oder die Mitgliedstaaten werden die Beziehungen zu Russland weiter bilateralisieren: Deutschland, Frankreich und Italien werden ihre Sonderbeziehungen aufrechterhalten. Zu erwarten ist wohl ein De-facto-Aussetzen der Verhandlungen zwischen der EU und Russland über ein neues Rahmenabkommen.

USA brauchen Russland in Afghanistan

Die Handlungsoptionen der USA sind beschränkt. Der bilaterale Handel mit Russland ist gering, verdeckte Sanktionen daher kraftlos. Die für Russland schmerzhafteste Reaktion wäre das Scheitern der kürzlich erzielten Übereinkunft mit den USA über die zivile nukleare Zusammenarbeit; diese Vereinbarung hätte Russland viel Geld eingebracht. Zwar wird der WTO-Beitritt Russlands noch weniger aussichtsreich; aber dieser war auch bisher schon blockiert – nicht zuletzt durch Georgien. Die USA können aber auf Russland nicht verzichten: Die ISAF-Mission und die Militäroperation „Enduring Freedom“ in Afghanistan sind auf die Unterstützung Russlands angewiesen. Dessen Mitwirkung an der nuklearen Nichtverbreitung, v.a. gegenüber dem Iran, ist unverzichtbar. Auf eine Verhärtung der Beziehungen durch die USA könnte Russland mit dem Verkauf des Luftabwehrsystems S-300 an den Iran und Syrien antworten.

Das russische Kalkül, die Kosten des militärischen Vorgehens gegen Georgien geringer zu halten als die erreichbaren Vorteile, hat sich letztlich bestätigt. Der Schaden für das Ansehen Russlands wird dabei in Kauf genommen. Georgien ist abgestraft und der Westen bloßgestellt.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 20.08.2008)

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