Eine idiotische Politik für ein Volk von Idioten

Gerade wenn politische Hemmungslosigkeit obwaltet, erkennt man, wie die Mehrheit denkt: maßlos, obrigkeitlich, realitätsfremd, brutal. Ein politisch unkorrekter Kommentar.

Die politischen Kommentare jener österreichischen Zeitungen, die solche sind, haben sich in Anbetracht des populistischen Dammbruchs auf eine Stimmungslage der Besorgtheit eingependelt. Wie kann man nur so agieren, so unwürdig, so opportunistisch, so anschmeißerisch? Wie kann man nur jede politische Vernunft derart radikal über Bord werfen? Trotz mancher demokratiemoralischer Vorhaltungen spielt sich die Diskussion jedoch eher auf der Ebene politstrategischer Wirksamkeit ab. Wie ist der Befreiungsschlag der Faymaniacs zu beurteilen, wie könnte eine molterianische Gegenstrategie aussehen, was werden die „Kleinen“ tun?

Man ist sich nicht sicher, ob die Politik nicht völlig verrückt geworden ist. Die „Politik“ – das ist eine einseitige Kritik. Denn wir können die Sache auch umdrehen. Der österreichische Sozialwissenschaftler Joseph Schumpeter hat vor einem halben Jahrhundert das Paradigma des Marktes auf die Politik angewendet, und eine kräftige Strömung der Neuen Politischen Ökonomie hat seine Idee weiterentwickelt. Das Modell ist: Auch in der politischen Szene gibt es Anbieter und Nachfrager, und sie handeln „marktkonform“.

Der Nachfrager muss wissen, was er will

Die „Anbieter“ sind politische Parteien, und sie offerieren ihre Programme, Maßnahmen und Personen mit dem Ziel, jeweils ihren Stimmenanteil zu maximieren (so wie Firmen ihren Gewinn maximieren wollen) und in der Folge Herrschaftspositionen besetzen und Pfründen verteilen zu können. Die „Nachfrager“ sind WählerInnen, die ihren Nutzen maximieren wollen (so wie beim Einkaufen) und deshalb abschätzen, von welchem Anbieter ihre persönlichen Interessen am besten bedient werden. Es geht keiner Seite um Gemeinwohl, Ethik, Zukunft, Nachhaltigkeit oder um die „gute Gesellschaft“.

Es ist ein Markt – auf einem funktionierenden Markt liefern die Anbieter, was die Nachfrager wollen, und nicht, was vernünftig oder hochwertig ist. Von einem Gastwirt würden wir nicht erwarten, dass er diesen vom Schweinsbraten abrät oder die cholesterintreibende Torte verweigert. Von einer Modeverkäuferin fordern wir nicht, dass sie den Geschmack der aufgetakelten Kundin zu korrigieren versucht – sie liefert, welche ästhetische Katastrophe auch immer verlangt wird. Der Nachfrager muss wissen, was er will, auch wenn es zu seinem eigenen Schaden ist.

Wenn wir dieses „reduzierte“ Demokratiemodell ernst nehmen, stehen die politischen Anbieter unter dem Druck, das zu liefern, was die Kundschaft schätzt, und aus ihren Angeboten kann man auf deren Präferenzen schließen. Man könnte allenfalls einwenden, dass in der aktuellen Situation an den Wünschen der Bevölkerung vorbei agiert wird, dass unattraktive Angebote erstellt und die Anbieter deshalb (analog zu Firmen, die sich auf dem Markt verkalkulieren) scheitern werden.

Das ist aus zwei Gründen unwahrscheinlich. Erstens sind Politiker meistens nicht dumm, jedenfalls nicht im Spitzenbereich; sie haben Erfahrungen und Gespür; sie werden von Marketing-Unternehmen im Wahlkampf unterstützt; sie testen Fokus-Gruppen; sie lassen Umfragen machen. Warum sollten sie in einer heiklen Situation mit den Erwartungen der WählerInnen frontal kollidieren?

Zweitens nehmen auch die Kommentatoren in den Medien offenbar die Situation eher so wahr, dass sie über die Wahlwirksamkeit jener Vorschläge räsonieren, die sie als manipulativ oder verlogen, unsinnig oder schädlich beurteilen. Es mag eine idiotische Politik sein – aber niemand behauptet, dass der großen Masse der WählerInnen dabei das Grausen aufsteigt. Im Gegenteil: Ziemlich viele scheinen zu applaudieren.

Auch wenn es politisch nicht unbedingt korrekt ist, muss man die Frage einmal umdrehen. Gerade in einer Situation, in der offenkundig politische Hemmungslosigkeit obwaltet, kann man die angebotene Programmatik als Indikator dafür nehmen, wie die Mehrheit der Bevölkerung denkt: eine Fallstudie zur Mentalitätsforschung.

Herrn Müller und Frau Meier werden offenbar die folgenden Haltungen zugeschrieben. „Obrigkeitlich“: Ein guter Herrscher ist jener, der durch die Lande fährt und Geld ins Volk wirft. „Realitätsfremd“: Irgendwo gibt es eine Kasse für die Gnadengaben, die aus geheimnisvollen Quellen immer wieder aufgefüllt wird, ohne dass man selbst etwas dazutun muss. „Brutal“: Hauptsache ist, uns geht es jetzt gut und wir bekommen etwas; wie die Kinder in etlichen Jahren – vermutlich unter schlechteren Umständen – mit der Schuldenrückzahlung herumraufen werden, kann uns gleichgültig sein. „Maßlos“: Wir gehören zwar zu den reichsten Ländern der Welt, aber wir sind „arm“, wir sind „Opfer“, und wir haben legitime Ansprüche auf Rundumhilfe.

Indikator für grassierende Mentalität

Möglicherweise hat die Politik Recht, wenn sie die ÖsterreicherInnen als obrigkeitlich, realitätsfremd, brutal und maßlos einschätzt – und entsprechende Vorschläge unterbreitet. Wenn sie nicht treffsicher wären, gäbe es keinen Anlass zur Besorgnis. Eine „idiotische Politik“ für ein „Volk von Idioten“ – ist das die Beschreibung der Situation, in der wir uns befinden?

Das klingt nicht besonders freundlich. Wir nehmen den aktuellen Politikunsinn nicht als Beleg für die schlechte Qualität der Politik, sondern als repräsentativen Indikator für die grassierende Mentalität. Man könnte sogar noch einen Schritt weitergehen: Natürlich wissen wir, dass diese Art von Politik in die Katastrophe führt; dass sie unbezahlbar ist; dass sie auf einer Ausbeutung der nächsten Generation beruht; dass sie Illusionismus und Lüge ist. Na und?

Es sind schließlich die WählerInnen, die eine solche Politik wollen müssen, und sie werden das selbst gemachte Desaster „ausbaden“ dürfen.

Wenn sie sich zutrauen, an Stammtischen das große Wort zu führen, Leserbriefe zu schreiben und in der Wahlkabine ein Kreuzerl zu machen, sind sie dafür verantwortlich. Es gibt genug Informationsquellen, sodass sich keiner darauf hinausreden kann, er oder sie habe von nichts gewusst – so wie schon öfter einmal.

Die wirksamste Reaktion des Nachfragers ist: nicht kaufen. Wenn er kauft, bestellt er mehr von dem Angebotenen.

„Ausbaden“ werden es alle

Freilich gibt es die unangenehme Begleiterscheinung, dass einige, die weitsichtiger oder anständiger sind, später beim „Ausbaden“ beteiligt werden, ebenso wie die nächste Generation, die nichts dafür kann.

Aber letztlich könnte man – wenn man auf den Politikzynismus der Machthaber mit Gegenzynismus reagiert – sagen: Die Leute wollen es nicht anders. Warum also sich aufregen über den politischen Schrott?

Manfred Prisching, geb. 1950 in Bruck a. d. Mur, ist Professor am Institut für Soziologie der Universität Graz.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 04.09.2008)

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