Das große Tauziehen um die Ukraine

Aus einer scheinbar lokalen Protestbewegung auf dem Kiewer Maidan vor einem Jahr ist die schwerste politisch-ökonomisch-ideelle Krise Europas der letzten 25 Jahre geworden. Sie hat globale Dimensionen angenommen.

Europa und die Welt sehen sich seit ziemlich genau einem Jahr mit Spannungsfeldern und Krisen sowie jeder Menge feindlicher Propaganda in der und um die Ukraine konfrontiert. Hierbei sind unterschiedliche Konfliktlinien und Konfrontationsfelder zu registrieren.

Der Konflikt in der Ukraine begann als Konflikt zwischen Autokratie und Demokratie, manifestiert in den Protesten auf dem Kiewer Maidan gegen den damaligen Staatschef Viktor Janukowitsch, der nach langen Verhandlungen plötzlich im November 2013 das Assoziierungsabkommen mit der EU nicht unterzeichnen wollte. In Kiew und anderen ukrainischen Städten folgten wochenlange Proteste und Demonstrationen von Hunderttausenden, wobei es bei den Auseinandersetzungen mit der Sonderpolizei über 80 Tote gab.

Trotz eines Übereinkommens zwischen der Opposition und dem Präsidenten verließ Janukowitsch Ende Februar 2014 sein Amt fluchtartig. Schon am 25. Mai wurde in international überwachten Wahlen der politisch erfahrene Unternehmer Petro Poroschenko zum neuen Präsidenten gewählt.

Vorgetäuschte Legitimität

Im Frühjahr brach der politische und militärische Konflikt zwischen der Regierung in Kiew und aufständischen pro-russischen Kräften in den Regionen Donezk und Lugansk aus. Die Regierung in Kiew hatte es verabsäumt, dem Donbass das Gefühl zu geben, ein gleichwertiger Landesteil zu sein.

Der Versuch der ukrainischen Armee im Sommer, die Separatisten militärisch zu besiegen, scheiterte infolge russischer Hilfe mit Soldaten und schweren Waffen. Illegale Plebiszite ohne Überwachung durch die OSZE im Oktober versuchen nun, eine Legitimität vorzutäuschen. Das von Kiew und Moskau unterzeichnete Minsker Protokoll vom 5. September 2014 spricht zwar von Waffenstillstand und Rückzug der bewaffneten Kräfte, dennoch sind seither hunderte Todesopfer zu beklagen.

Die unter Bruch des Völkerrechts (UN-Charta, bilateraler Vertrag 1997) und des Budapester Memorandums von 1994 (die Ukraine gab ihre Atomwaffen ab, Russland, die USA und Großbritannien bestätigten die Souveränität der Ukraine in ihren damaligen Grenzen!) durchgeführte Annexion der Halbinsel Krim ist heute erstaunlicherweise in der internationalen Diskussion in den Hintergrund getreten. Russlands Präsident Wladimir Putin, der mittlerweile die politische und militärische Intervention Russlands ungeniert zugibt, argumentiert mit dem angeblichen Selbstbestimmungsrecht der Russen auf der Krim (von einer Unterdrückung der Russen auf der Krim konnte allerdings keine Rede sein).

Nach wie vor schwelt der Konflikt um die wirtschaftliche Abhängigkeit beziehungsweise Selbstständigkeit der Ukraine weiter und entwickelte sich mittlerweile zu einer Integrationsrivalität zwischen EU und Russland: Soll die Ukraine in eine von Russland geführte „Eurasische Wirtschaftsunion“ oder in die EU eingebunden werden oder eine Art „Neutralität“ zwischen Russland und der EU einnehmen?

Mehrheit für EU-Anbindung

Eine deutliche Mehrheit der Ukrainer ist heute zweifellos für eine Anbindung an die EU; aber Russland droht mit höheren Öl- und Gaspreisen sowie der Eintreibung der Schulden. Die EU scheint mit dem Assoziierungsabkommen mit der Ukraine derzeit die besseren Karten zu haben. Man sollte aber den sich rapide verschlechternden Zustand der ukrainischen Wirtschaft nicht vergessen, auch nicht die noch katastrophalere Situation in den umkämpften Gebieten in der Ostukraine. Je länger die Kämpfe andauern, desto mehr stellt sich die Frage, wer den Wiederaufbau in der Ostukraine bezahlen soll.

Die Ukraine-Krise ist Teil des weltpolitischen Konfliktpotenzials zwischen Russland und dem Westen (USA und EU) um wirtschaftliche, politische und militärische Einflusszonen. Hierbei geht es nicht nur um die Ukraine, sondern auch um Transkaukasien (Georgien) und Zentralasien. Putin kritisierte immer wieder die Osterweiterung der Nato und stellte sie als feindlichen Akt gegenüber Russland dar. Er verschweigt dabei, dass sich die baltischen Staaten, Polen, Rumänien und Bulgarien aus freien Stücken und auf eigene Initiative hin der Nato angeschlossen haben.

Putins Machtdemonstrationen

Russlands militärische Demonstrationen (Langstreckenflüge über dem Nordatlantik und der Ostsee; Flottenmanöver im Ärmelkanal) haben bisher genau das Gegenteil erreicht: Die Nato tritt geschlossener denn je auf und führt Manöver unweit der russischen Grenzen durch. Andererseits sind auch verstärkte Militäraktivitäten Russlands auf der Krim, in Abchasien und in Transnistrien zu beobachten.

Die EU und die USA beschlossen schon im Sommer Wirtschaftssanktionen gegen Russland sowie gegen ausgewählte Politiker und Institutionen. Die Sanktionen wurden schrittweise verschärft und Russland antwortete mit Gegensanktionen. Der starke Verfall des Rubel, der starke Rückgang westlicher Investitionen in Russland und der deutliche Rückgang der russischen Touristen in Mittel- und Westeuropa weisen auf starke Wirkungen der Sanktionen hin.

Die westlichen Sanktionen treffen vor allem die russische städtische Mittelschicht, die russischen Gegensanktionen europäische Exporteure im Investitionsgüter- und Landwirtschaftsbereich. Aber der rüstungspolitische Riese Russland dürfte gegen den wirtschaftspolitischen Riesen EU auf lange Sicht die schlechteren Karten besitzen.

Mittelfristig wird jedoch der russische Staatshaushalt vor allem von den niedrigen Öl- und Gaspreisen getroffen, die von den USA und Saudiarabien gesteuert werden. Die russische Hoffnung auf China könnte sich als trügerisch erweisen, da China vor allem an hochinnovativen westlichen Industriegütern interessiert ist, während es Öl und Gas überall kaufen kann.

Streben nach alter Größe

Für viele Beobachter stellt sich schließlich die Frage, ob Europa zum alten Nationalismus zurückkehrt. Der weitgehend herrschaftsfreie Diskurs innerhalb der EU scheint östlich des Bug nicht zu gelten: Russland strebt nach alter Größe wie im Zarenreich vor 1914 oder unter Stalin nach 1945 und betreibt klassische Geopolitik.

Der Kreml betrachtet die ehemaligen Sowjetrepubliken im Westen, Süden und Osten als „Nahes Ausland“, in dem man den alten Einfluss zurückgewinnen will. Alter/neuer Einfluss wird aber auch in Serbien und Bosnien gesucht.

Außerdem wird der westlich-aufgeklärten Lebenswelt eine russisch-orthodoxe gegenübergestellt. Dieser intellektuellen Konfrontation widerspricht freilich die Tatsache, dass Teile der russischen Mittel- und Oberschicht ihre Kinder in Eliteschulen im westlichen Ausland unterrichten lassen.

Insgesamt ist zu konstatieren, dass aus der scheinbar lokalen Protestbewegung auf dem Kiewer Maidan die schwerste politisch-ökonomisch-ideelle Krise Europas der vergangenen 25 Jahre erwachsen ist, die sogar globale Dimensionen angenommen hat. Eine rasche Lösung ist dabei nicht in Sicht.

E-Mails an: debatte@diepresse.com

ZUR PERSON

Arnold Suppan (* 1945 St. Veit/Glan) studierte Geschichte und Germanistik in Wien. Von 2000 bis 2011 war er ordentlicher Professor am Institut für Osteuropäische Geschichte der Universität Wien. Sein neuestes
Buch: „Hitler – Beneš – Tito. Krieg und Völkermord in Ostmittel- und Südosteuropa“ (Verlag ÖAW). [ Clemens Fabry ]

("Die Presse", Print-Ausgabe, 04.12.2014)

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