Alexis Tsipras und ein paar unbequeme Wahrheiten

Pressestimmen: In vielen europäischen Zeitungen wird gefragt, wie es jetzt weitergeht: die Griechen machen lassen oder ihnen weiter helfen?

„Dagens Nyheter“ - Bezahlt wird mit Luft

Stockholm. „Alle Einsparungen und mühsam durchgesetzten Reformen sollen weg, Löhne und Pensionen sollen wieder auf das Niveau von vor der Krise angehoben werden, Privatisierungen sollen gestoppt und rückgängig gemacht werden, breite Gruppen sollen ärztliche Hilfe und Strom umsonst bekommen, alle gekündigten öffentlichen Angestellten sollen wieder zurückkommen (und Gesellschaft von 10.000 neuen erhalten). Und das alles wird mit Luft bezahlt: der Utopie, dass der umfassende Steuerbetrug umgehend gestoppt werden kann. Syriza würde auf jeden Fall eines wiederherstellen: eine Wirtschaft im Zustand der Auflösung.“

„Die Welt“ - Wer, wenn nicht er?

Berlin. „Der begnadete Populist Tsipras wird den Griechen, von denen sich immer noch zu viele der Realität verweigern, unbequeme Wahrheiten zumuten müssen. Die wichtigste: Griechenland ist pleite, und wenn sich keine alternativen Geldgeber finden, muss Tsipras einlenken und auf die Troika zugehen. Für Tsipras spricht, dass er Vertrauen in der Bevölkerung genießt. Im Gegensatz zu den etablierten Parteien gilt er – auch wegen seiner Querschüsse an die Adresse Brüssels und Berlins – im Land nicht als Marionette der ausländischen Gläubiger. Wer, wenn nicht er, könnte die notwendigen Reformen gegen Widerstände durchsetzen?“

„De Telegraaf“ - Streit unvermeidlich

Amsterdam. „Was nun? Griechenland und Europa bekommen unvermeidlich Streit. Absprachen sind einzuhalten, wird Europa sagen. Die Demokratie hat gesprochen, werden die Sieger der griechischen Wahlen antworten. Und während nun wochenlang, vielleicht monatelang gestritten wird, kann es mit Griechenland furchtbar schiefgehen. Solange die Unsicherheit andauert, ist die Gefahr groß, dass es zum Ansturm auf die Banken und zur Kapitalflucht kommt. Was macht Europa? Zuschauen, wie sich das Land selbst zugrunde richtet? Oder doch Hilfe leisten? Und was wird mit den Staatsschulden Griechenlands? Niemand in Europa will sie erlassen. Doch zugleich weiß jeder, dass sie unerträglich hoch sind.“

„Mladá fronta Dnes“ -Abstieg ins Totenreich

Prag. „Die Griechen haben bei der Wahl ihr leichtsinniges Gesicht gezeigt. Hart gesagt, die Griechen sind unerträgliche Erpresser. Keiner auf dem alten Kontinent weiß sich ihres Starrsinns, ihrer stolzen Disziplinlosigkeit und ihrer ,Gangster-Auffassung‘ bei der Zusammenarbeit zu erwehren. Die Wahlen vom Sonntag gehen vielleicht als Moment in die Geschichte ein, in dem sich die Griechen freiwillig für einen kollektiven Abstieg ins Totenreich entschieden haben, wo der Gott der Unterwelt, Hades, regiert, der in diesem Fall Syriza heißt.“

„Tageszeitung“ - Chancen und Risken

Berlin. „Mit dem Wahlsieg von Syriza verbinden sich tatsächlich Chancen und Risiken. An Szenarien herrscht weiß Gott kein Mangel. Die griechischen Linken werden ihr Land zugrunde richten – und die Eurozone noch dazu, warnen Konservative. Manche Linke glauben dagegen an eine Europa umspannende Trendwende, die den Menschen mehr Gerechtigkeit und den Banken weniger Steuergelder schenken wird. Zunächst einmal ist der Sieg von Syriza eine Chance dafür, dass sich Griechenland von jahrzehntelanger Korruption und Vetternwirtschaft befreit, mit denen sowohl die konservative Nea Demokratia als auch die sozialdemokratische Pasok untrennbar verbunden waren.“

„Finance“- Paradies für Extreme

Ljubljana. „Der Wahrheit zuliebe: Griechenland ist eine Ruine. Die Hauptfrage, mit der sich Tsipras, aber auch die europäischen Partner Athens werden beschäftigen müssen, ist, wie man das Land wirtschaftlich wieder auf die Beine stellt. Dieses Thema wurde bisher etwas in den Hintergrund gedrängt. Solange in Griechenland gut ein Viertel der arbeitsfähigen Bevölkerung arbeitslos ist und jeder zweite junge Mensch ohne Job und damit ohne Einkommen, wird Griechenland ein Übungsgelände für solche und andere politische Experimente und Extreme sein. Ein Paradies für Extreme. Heute Syriza, morgen vielleicht schon die Neonazi-Partei ,Goldene Morgenröte‘. Es ist durchaus möglich, dass auch Spanien mit seiner linken Podemos-Partei einen ähnlichen politischen Weg einschlagen wird.“

„Népszabadság“- Gilt für alle: Aufwachen!

Budapest. „,Aufwachen!‘ Das war die Botschaft der griechischen Wähler an Europa – genauer: an das Tandem EU/IWF, das die finanzielle Herz-Lungen-Maschine für Griechenland betreibt. Schlechter kann es kaum mehr werden, mögen sich die Wähler mit ihrem Votum für die radikale Linke gedacht haben. ,Aufwachen!‘ So wird auch die Botschaft aus Brüssel, Berlin und sonst wo in Europa lauten. Wenn Syriza das Ende der Sparprogramme versprochen hat und den Schuldenschnitt fordert, werden wir auch noch ein Wörtchen mitreden. ,Aufwachen!‘ Das ist unsere Botschaft, denn irgendetwas funktioniert da gar nicht mehr. Die Austeritätspolitik brachte keine Lösung, doch das griechische Wirtschaftschaos war ebenfalls unhaltbar. Das Fass ohne Boden würde ungefragt weitere 240 Milliarden Euro verschlingen. Das kann niemand wollen.“

„Tagesanzeiger“ - Wagt Tsipras den Bruch?

Zürich. „Die Empörung vieler Griechen richtet sich gegen all jene, die sie dafür verantwortlich machen, dass ihre persönlichen Opfer in fünf langen Krisenjahren offenbar weitgehend umsonst waren. Ob Tsipras die Hoffnungen all seiner Wähler erfüllen kann, wird deshalb nicht allein davon abhängen, ob er in Berlin und Brüssel eine schöne Kolotumba macht, um Griechenlands Verbleib in der Eurozone mit neuen Kreditlinien abzusichern. Für die Zukunft des Landes ist mindestens so bedeutend, dass die Wahlsieger den Bruch mit dem alten Gefälligkeitsstaat wagen. Nur so kann es ein neues Griechenland geben.“

„Publico“ - Große Versprechen

Lissabon. „Die Griechen wählten Alexis Tsipras, weil er ihnen ein Ende der Sparpolitik versprochen hatte. Der künftige Regierungschef könnte nun das tun, was in der Politik nicht ungewöhnlich ist, nämlich seine Versprechen nicht halten. Dann bräche aber das gesamte Gebäude des Linksbündnisses Syriza wie ein Kartenhaus in sich zusammen. Tsipras muss mit Deutschland und der Troika der Geldgeber verhandeln und versuchen, ein Ende der grausamen Austerität zu erreichen.“

„Guardian“ - Berlin gibt den Ton an

London. „Jetzt wird sich entscheiden, ob die neue griechische Regierung sich mit ihren Kreditgebern auf neuer Grundlage einigen kann. Ein erfolgreiches Ergebnis wird hauptsächlich von Deutschland abhängen, wo man immer noch meint, dass die Eurozone nur mit der finanzpolitischen Rechtschaffenheit weiterleben kann, die das Erdbeben in Griechenland herbeigeführt hat. Für Angela Merkel wird das nicht einfach sein. Es ist ja nicht nur Griechenland – die gesamte Eurozone braucht einen Neuanfang.“

("Die Presse", Print-Ausgabe, 27.01.2015)

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