Wien braucht ein gerechtes Wahlsystem

Die Ausgestaltung des Wahlrechts ist eine fundamentale Frage für die Demokratie. Aber in der SPÖ wurde bei der Bewertung von Wahlsystemen bisher mit zweierlei Maß gemessen: Der Standort bestimmte den Standpunkt.

Die Reform des Wiener Wahlrechts entzweit die rot-grüne Koalition in Wien seit ihrem Regierungsantritt. Gemeinsames Ziel ist laut Koalitionsvertrag ein „modernes Verhältniswahlrecht“. In einem solchen dürfen kleinere Parteien aber nicht weiterhin strukturell benachteiligt werden.

Kernpunkt der Auseinandersetzung zwischen SPÖ und Grünen sind die „mehrheitsfördernden Elemente“ im Gemeinderatswahlsystem. Die stimmenstärkste Partei wird bei der Verteilung der Mandate nämlich stark bevorzugt. Sie braucht pro Mandat deutlich weniger Stimmen als eine Kleinpartei.

So reichten 2010 bei der Wahl 6832 Stimmen für ein Gemeinderatsmandat der SPÖ, bei den Grünen waren mit 8677 Stimmen um 27 Prozent mehr Stimmen notwendig. Das liegt vor allem daran, dass die Gemeinderatsmandate auf zwei Ebenen – nämlich in den Wahlkreisen und auf Landesebene – verteilt werden.

„Umgedrehte“ Wahlergebnisse

In den Wahlkreisen, in denen vor allem große Parteien den Löwenanteil ihrer Mandate gewinnen, braucht es für dieselben aber deutlich weniger Stimmen als auf Landesebene. Dass die Oppositionsparteien und die Grünen diesen Umstand als problematisch empfinden, ist naheliegend.

Zudem führt das Wiener Wahlsystem dazu, dass Wahlergebnisse bei manchen Wahlen einfach „umgedreht“ werden: 1996 erhielt das Liberale Forum mehr Stimmen als die Grünen, aber dennoch um ein Mandat weniger. 2005 erreichten die Grünen ein Mandat mehr als die FPÖ, obwohl sie einen um 0,2 Prozent geringeren Stimmenanteil hatten. Sie erhielten in beiden Fällen mehr Wahlkreismandate als die jeweils fast gleich starke Konkurrenz.

Dass die Intention der Wählerinnen und Wähler durch ein derartiges Wahlsystem stark verzerrt wird, ist für viele Menschen nur schwer verständlich. Ob dadurch Wien besser regierbar wird, wie vonseiten der SPÖ immer argumentiert wird, lässt sich mit den bisherigen Wahlergebnissen kaum begründen: Bei jeder Wahl seit 1919 wäre eine stabile Regierungskonstellation möglich gewesen.

Mehrheitsfördernde Wahlsysteme finden aber nicht immer die Zustimmung der Sozialdemokratie. So hat die SPÖ 2004 gegen die Reform des ÖH-Wahlrechts protestiert, das zu Verzerrungen des Stimmergebnisses zugunsten der ÖVP-nahen Aktionsgemeinschaft führte. Der Sozialdemokratische Wirtschaftsverband wiederum übte erst vor Kurzem zu Recht scharfe Kritik am Wirtschaftskammerwahlrecht, das „die Realität des Stimmverhaltens bei Wahlen“ nicht ausreichend abbilde.

Die Mechanismen, die in diesen Fällen zur Verzerrung zugunsten einer wahlwerbenden Gruppierung führen, mögen andere sein, die Auswirkungen auf die Mandatsverteilung sind aber ähnlich – die stärksten Fraktionen profitieren überproportional.

Bei der Bewertung von Wahlsystemen wird innerhalb der SPÖ ganz offenkundig mit zweierlei Maß gemessen. Wenn der Standort den Standpunkt bestimmt, dann herrschen taktische Interessen vor anstelle von Überzeugungen.

Das ist einer auf Grundwerten wie Gerechtigkeit und Gleichheit beruhenden Partei wie der SPÖ unwürdig. Eine klare Position, die überall gilt, ist nötig, und diese kann nur lauten, dass immer die maximale Verhältnismäßigkeit angestrebt wird.

Transparenter = besser

Oft wird das Argument vorgebracht, dass auch andere Länder Wahlsysteme haben, die das Stimmergebnis verzerren. Natürlich sind auch Demokratien mit Mehrheitswahlrecht wie Großbritannien und Frankreich oder mit mehrheitsfördernden Wahlsystemen wie Italien und Griechenland vollwertige Demokratien. Ohne Zweifel ist auch das Wiener Wahlrecht mit den Grundsätzen der Demokratie vereinbar. Zum Glück herrscht in Österreich aber ein Demokratieverständnis vor, demgemäß ein proportionales Wahlsystem, das alle Stimmen in gleicher Weise berücksichtigt und zu nachvollziehbaren Mandatsergebnissen führt, transparenter, gerechter und damit besser ist.

Ein neues Modell

Daher sollte die Mandatsverteilung im Wiener Gemeinderat und Landtag möglichst genau die Stimmergebnisse abbilden. Am sinnvollsten erscheint dafür folgendes Modell, das die „billigen“ Mandate in den Wahlkreisen für die endgültige Mandatsverteilung irrelevant macht:

Gemäß den gesamten Stimmen werden alle 100 Gemeinderatsmandate verteilt. In der SPÖ kämen zu den 42 Wahlkreismandaten vier statt bisher sieben Landesmandate hinzu. Die Grünen würden so insgesamt 13 Mandate erreichen, zwei mehr als bisher. Die ÖVP würde sich von 13 auf 14 Mandate verbessern, und die FPÖ würde mit 27 Mandaten gleich bleiben. So garantiert das Wahlsystem, dass alle Parteien gemäß ihrer Stimmenstärke im Gemeinderat vertreten sind – ein vollständiger Verhältnisausgleich. Das ist jedoch nicht der einzige Aspekt des Wiener Wahlrechts, der stark reformbedürftig ist.

Die von den Parteien vorgegebene Reihung der Kandidatinnen und Kandidaten kann von der Wählerschaft kaum verändert werden. Zwar ist im Wahlrecht die Möglichkeit der Vergabe von Vorzugsstimmen auf Landes- und Wahlkreisebene vorgesehen, diese sind aufgrund der hohen Hürden aber meistens völlig wirkungslos. Deshalb wäre eine deutliche Absenkung dieser Hürden sinnvoll.

Der Einfluss der Wählerinnen und Wähler auf die personelle Zusammensetzung des Gemeinderats kann auch durch eine Ausweitung der Anzahl an Vorzugsstimmen verbessert werden. Bisher können in Wien nur eine Vorzugsstimme auf der Wahlkreisliste und zwei auf Wiener Ebene vergeben werden.

Sperrklausel

Das Hamburger Landeswahlrecht sieht die Vergabe von jeweils fünf Vorzugsstimmen auf Wahlkreis- und Landesebene vor. Ein Schritt in diese Richtung sollte auch in Wien umgesetzt werden. Kritisch zu sehen ist außerdem die Sperrklausel, die Parteien mit weniger als fünf Prozent der Stimmen vom Einzug in den Gemeinderat ausschließt. Das ist zu restriktiv, vor allem im Hinblick darauf, dass für den Einzug in den Nationalrat bereits vier Prozent reichen.

In Stockholm genügen bereits drei Prozent zum Einzug, in den anderen westeuropäischen Hauptstädten, so in Kopenhagen, Amsterdam, Rom oder Athen, gibt es überhaupt keine Sperrklausel für den Einzug ins Stadtparlament. Eine moderate Senkung der Hürde wäre daher wünschenswert.

Die Ausgestaltung des Wahlrechts ist eine fundamentale Frage für ein demokratisches Gemeinwesen. Ausgangspunkt bei der Reform des Wiener Wahlrechts kann daher nicht sein, was der eigenen Partei im Hinblick auf deren Mandatsstärke nützt, sondern was gerecht und mit gutem Gewissen vertretbar ist. Glaubwürdig ist eine Reform nur dann, wenn sie aus sachlichen und nachvollziehbaren Gründen erfolgt – und nicht aus machtpolitischen Überlegungen.

E-Mails an: debatte@diepresse.com

DER AUTOR

Oliver Zwickelsdorfer (*1981 in Wien) studierte Volkswirtschaft und Politikwissenschaft in Wien. Seit ihrer Gründung engagiert er sich bei der Sektion 8 der SPÖ Alsergrund, einem Partei-Reformprojekt innerhalb der SPÖ. Schwerpunktmäßig beschäftigt er sich mit Wahlrechtsthemen sowie Fragen der innerparteilichen Demokratie. [ Privat]

("Die Presse", Print-Ausgabe, 05.02.2015)

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