Griechenland-Krise als Anstoß für eine EU-Reform

Die griechische Tragödie wurde von der EU mitverursacht. Aus dieser Tatsache sollte sie die richtigen Konsequenzen ziehen.

Es ist geradezu erschütternd, wie hart Politiker und Kommentatoren mit der Absicht der neuen griechischen Regierung ins Gericht gehen, eine Reduzierung ihrer Schuldenrückzahlungen zu erreichen. Dieser Staat habe ja schon Milliarden von der EU bekommen, heißt es. Um aber weiter unterstützt zu werden, müsse auch er sich an getroffene Vereinbarungen halten und sein eigenes Haus in Ordnung bringen; schließlich sei die derzeitige Situation zu einem hohen Maß eigener Misswirtschaft zuzuschreiben. All diese Argumente sind weitgehend zutreffend. Und trotzdem sind sie von einer starken Einseitigkeit geprägt.

Aus einer breiteren Perspektive eröffnen sich ganz andere Möglichkeiten – auch wenn deren Realisierung nicht von heute auf morgen alle Probleme lösen wird. Es lässt sich eindeutig zeigen, dass die Tragödie Griechenlands auch durch die EU selbst mitverursacht worden ist. Von einer solchen muss man wohl sprechen, wenn Ende vergangenen Jahres 26 Prozent – nahezu drei der elf Millionen Griechen – und 50 Prozent der Jugendlichen arbeitslos waren.

Geringe Aussicht auf Erholung

Die Aussichten, dass die griechische Wirtschaft sich in absehbarer Zeit so stark erholen wird, dass diese Zahlen signifikant zurückgehen werden, sind sehr gering. Die Maßnahmen, die man für Griechenland setzt, sind auch für die anderen „kranken“ Länder Südeuropas – Italien, Spanien, Portugal – von höchster Bedeutung. Im Vergleich zu diesen Ländern sind Deutschland und Österreich Beschäftigungs-„Europameister“. Das ist jedoch kein Zufall.

Es ist evident, dass die neue innere Spaltung der EU mit der Einführung des Euro zu tun hatte, auf den weder die individuellen und kollektiven Verhaltensweisen noch die Institutionen der südeuropäischen Mitgliedsländer ausreichend vorbereitet waren. Die deutschen Ausfuhren nach Griechenland haben sich zwischen 2002 und 2008 verdoppelt. Es hat sich ein massives Ungleichgewicht in der Außenhandelsbilanz entwickelt. Während die Exporte fast 40 Prozent des BIPs in Deutschland und Österreich ausmachen, sind es in Griechenland gerade einmal 16 Prozent (2014).

Inwiefern könnte die südeuropäische Krise auch durch die EU und die Politik ihrer starken Mitgliedstaaten selbst mitverursacht worden sein? Fünf Aspekte sind hier zu nennen.
•Erstens: Griechenland war einer der größten Nettoempfänger von Ausgleichszahlungen der EU-Agrar-, Struktur- und Regionalpolitik. Dabei geht es um enorme Summen. Für kleinere Länder, die hohe Transferzahlungen erhalten, impliziert dies gravierende volkswirtschaftliche Effekte.

Dabei hat sich (analog zur „holländischen Krankheit“ in den 1980ern) die „griechische Krankheit“ entwickelt. Gemeint ist dabei das Phänomen, dass nicht durch eigene Produktion erzeugte „Rentier“-Einnahmen zum Niedergang der Industrie, zu steigender Arbeitslosigkeit und einer allgemeinen Wirtschaftskrise führen können. Mit 4,5Milliarden (2,3Prozent des Bruttoinlandsprodukts) war Griechenland 2012 der drittgrößte Nettoempfänger in der EU (nach Polen und Portugal).

Hier lag eine der Wurzeln der „griechischen Krankheit“: Durch die EU-Subventionen wird vor allem die wenig produktive und zukunftsträchtige Landwirtschaft gefördert. Das reichliche Fließen dieser Subventionen fördert Vorteilsnahme, Klientelismus und Korruption. Dies ist seit je ein massives Problem der EU-Agrarsubventionen in allen Empfängerländern.
•Zweitens: Die Gelder der Regional- und Strukturfonds der EU fließen zu einem großen Teil in Investitionen der Bauwirtschaft. Auch in Griechenland wurden infrastrukturelle Großinvestitionen gefördert. Viele davon sind kaum ausgelastet und haben wenig nachhaltige Effekte für Wachstum und Beschäftigung; einige der teuren Anlagen für die Olympischen Spiele in Athen verrotten heute bereits.

Hohe Verteidigungsausgaben

•Drittens: Ein besonders gravierender nationaler Ausgabenposten waren die überproportional hohen Verteidigungsausgaben Griechenlands. Sein Anteil am Bruttoinlandsprodukt betrug noch bis vor Kurzem vier Prozent – weit mehr als in allen anderen EU-Mitgliedstaaten (2009 waren dies 8,6 Milliarden Euro; zum Vergleich Österreich: rund zwei Milliarden). Dabei weiß man, dass im internationalen Waffenhandel kaum ein größeres Geschäft ohne Schmiergeld getätigt werden kann. Es wurde mehrfach aufgedeckt, dass hier oft hohe Schwarzgelder geflossen waren.
•Viertens: Große westeuropäische Banken und Unternehmen haben vom Boom in Griechenland profitiert. 2010 war Griechenland bei französischen, deutschen und Schweizer Banken mit hohen Beträgen (40 bis 80 Milliarden Euro) verschuldet; der größte Teil der bisherigen Rettungsgelder floss in Rückzahlungen an diese Banken.

Innere Spaltung der EU

Rüstungsfirmen wie Thyssen-Krupp, Krauss-Maffei und andere profitierten davon, dass Griechenland im vergangenen Jahrzehnt Kampfflugzeuge, Panzer, Schiffe, Munition im Wert von mehr als elf Milliarden US-Dollar importiert hat. Auch hier war oft Korruption – für die immer zwei Partner notwendig sind – im Spiel.
•Fünftens: Vor Kurzem wurde bekannt, dass Luxemburg, eines der „Musterländer“ der EU, seinen Reichtum nicht zuletzt der Tatsache verdankt, dass es ein steuerschonendes Schlupfloch für Großunternehmen und Kapitalbesitzer aus anderen EU-Staaten darstellte; auch andere Länder (nicht zuletzt Österreich) profitierten von solchen Praktiken. Aus Griechenland wurden ebenfalls seit Jahrzehnten hohe Summen in solche Steueroasen transferiert und damit der eigenen Wirtschaft entzogen.

Man kann aus diesen Fakten Folgerungen für eine Reform der EU ableiten, die nicht nur Griechenland unterstützen, sondern zu einer Reduktion der generellen gefährlichen neuen inneren Spaltung der EU beitragen könnten. Erste Schritte zu einer Problembewältigung sollten folgende sein.
•Erstens: eine EU-weite wirksame Bekämpfung von Schwarzgeldoasen und eine Austrocknung des Systems der „Steueroasen“, in die Unternehmen ihre Gewinne transferieren und damit ihre nationalen Steuerverpflichtungen umgehen konnten.
•Zweitens: ein striktes Verbot von Schmiergeldzahlungen und versteckten Begünstigungen im Zusammenhang mit Auslandsinvestitionen von Unternehmen.

Funktionaler Finanzausgleich

•Drittens: ein Ersetzen der EU-Direktsubventionen und Projektfinanzierungen durch einen „funktionalen Finanzausgleich“ durch den Unternehmen, die in den peripheren, krisengeschüttelten und zurückfallenden Ländern und Regionen der EU arbeitsplatzschaffende Investitionen tätigen, von Steuer- und Sozialabgaben entlastet werden (wobei die Ausfälle von den reicheren Ländern zu tragen wären).
•Viertens: eine EU-weite Arbeitslosenversicherung, die zumindest einen Sockelbetrag der Arbeitslosenunterstützung in den strukturschwachen Regionen und Ländern übernimmt.

E-Mails an: debatte@diepresse.com

DER AUTOR


Max Haller
(*1947 in Sterzing) ist Professor für Soziologie an der Uni Graz und Mitglied der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, Mitbegründer der Europäischen Gesellschaft für Soziologie. Er war Gastprofessor an den Universitäten Klagenfurt, Innsbruck, Heidelberg, Trient, Santa Barbara und St.Augustine University of Tanzania. [ Privat ]

("Die Presse", Print-Ausgabe, 25.02.2015)

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