Postmoderne Sinnlosigkeit und religiöser Fanatismus

Weder Aufklärer noch Postmodernisten haben mit der Wiederkehr fanatisierter Religionen im 21. Jahrhundert gerechnet.

Im 19. Jahrhundert, zwischen Manchester-Kapitalismus und wütenden Arbeiterrevolten quer durch den europäischen Kontinent, beschwor Karl Marx in seinen Proklamationen die Weltrevolution: „Ein Gespenst geht um in Europa – das Gespenst des Kommunismus.“

Was für Friedrich Nietzsche der „Schatten über Europa“ war, nämlich der nihilistische Werteverfall, war für Karl Marx Jahrzehnte zuvor schon der möglichst globale Kommunismus. Kurzum, die traditionellen Weltreligionen, Demokratie und Freihandel sollten im Kommunismus – und unter anderen Vorzeichen dann auch im Nationalsozialismus – ihr expansives Widerlager erfahren.

Bis zur 1989er-Wende war der Ost-West-Konflikt ein ideologischer zwischen unterschiedlichen politischen Systemen. Die gesellschaftspolitischen Altideologien reduzierten sich nach der „großen Wende“ auf sektiererische Splittergruppen, die ihres realpolitischen Versagens überführt worden waren. Der Niedergang der alten Ideologien wurde von namhaften Geistesgrößen wie Jean-François Lyotard, Jürgen Habermas, Niklas Luhmann, Jacques Derrida und vielen anderen als signifikant dafür bewertet, dass die Epoche der Moderne am Ende sei. Die krisenhafte Wende hin zur Postmoderne sei gerade daran für jedermann erkennbar, dass die Ideologien obsolet geworden seien.

Weltreligionen unter Verdacht

Wenn man also im Denken der Postmoderne den Ideologien wie den Nationen nur noch eines zutraute, nämlich ihre (Selbst-)Abschaffung, so verhieß man den Religionen dasselbe. Spätestens seit dem religionskritischen 19.Jahrhundert standen die Weltreligionen unter dem Spezialverdacht der Aufklärung, nämlich dem der Ideologie mit transzendentalen Seinsbeschwörungen. Die Postmodernisten gingen noch an der Jahrtausendgrenze vom „schleichenden“ Ende der Religionen aus: Entweder sie würden im Sinne einer Säkularisierungstheorie ein selbstaufgeklärtes Restdasein als humanistische Organe fristen, oder sie würden durch konsequente Entmythologisierung als Aberglaube enttarnt und marginalisiert.

Max Horkheimer und Theodor W. Adorno, die Altväter der Frankfurter Schule mit ihrer Kritischen Theorie, dachten vorsichtig anders: Sie analysierten in der „Dialektik der Aufklärung“ (1944) die fortwährende Konfliktsituation zwischen Vernunft und Irrationalität, zwischen Glaube und wieder erstarkendem Fanatismus.

Mit einer schließlich erfolgten Wiederkehr fanatisierter Religionen im 21. Jahrhundert haben aber weder Aufklärer noch Postmodernisten gerechnet. Das Gespenst des gewaltbereiten religiösen Fanatismus geistert quer durch die Weltgeschichte. Dabei muss der praktizierte religiöse Fanatismus nicht zwangsläufig deckungsgleich sein mit dem buchstabenverhafteten Fundamentalismus.

Der Fanatismus inspiriert sich häufig aus Zusatz- beziehungsweise Privatoffenbarungen und willkürlicher Verabsolutierung mancher Passagen schriftlicher Offenbarung. Der Fundamentalismus ist oppressiv, setzt zwanghaft auf Selbstverschließung, Entzug und Verweigerung. Wann immer Fundamentalismus mit Fanatismus verschmilzt, bricht die fanatisierte Gruppe aus ihrem selbst geschaffenen Ghetto aus, um gewaltsam-missionarisch zu bekehren oder zu vernichten.

Versteht man in einer gewissen Abhebung vom Fundamentalismus den Fanatismus psychologisch als Symptomhaltung und -handlung, ermöglicht diese Perspektive eine anthropologisch-analytische Herangehensweise, die auch keine verdeckten „Schuldzuweisungen“ an die eine oder andere Religionsgemeinschaft zur Ergebnisfindung nötig hat.

Substanzloser Fanatismus

Fanatismus als Symptom einer tiefer liegenden „Störung“ ist vergleichbar mit einem trockenen Schwamm. Mit welcher Flüssigkeit er wie gefüllt wird, ist dem Schwamm gleichgültig. Der Fanatismus kann somit verschiedene Prägungen, Haltungen, Zielvorgaben annehmen. Jeder Fanatismus ist zwar nicht ziel- und inhaltslos, aber substanzlos. Deshalb distanzieren sich über kurz oder lang alle etablierten, auf Schriftoffenbarung basierenden Religionsgemeinschaften von ihren Fanatikern. Dies wiederum beeindruckt die Ausgegrenzten im Sinne von positiver Verstärkung und exklusiver Gruppenbildung.

Nach dem Verfall der alten Gesellschafts- und Politikideologien dekretierte die „vernünftige Moderne“ ihren Repräsentanten, dass die „postmoderne Welt“ bleibend befreit sein werde. Dass nach der Millenniumsgrenze ausgerechnet das „Gespenst“ der religionspolitischen Ideologie auferstehen und fanatisch anwachsen könnte, das hielt man kaum für möglich. Aber genau dies vollzieht sich gerade: eine religiöse Ideologisierung, die den Islam in Hochspannung versetzt.

Der Konsens der Vernunft

Der Islamische Staat als desiderativer „Gottesstaat“ ist emblematisch für religiöse Ideologie, für einen fanatisch tendierenden Totalitarismus. Das Thema des Gottesstaates ist so unerschöpflich wie Fantasie, Frömmigkeit und Fanatismus. Wer ihm nachspürt, erkennt, dass es potenziell alle Religionen betrifft. Dass es also insofern keine „guten“ und keine „schlechten“ gibt, sondern dass die Möglichkeit zum idealistisch Verstiegenen und sogar Fanatischen allen Religionen inhärent ist.

Der Wissenschaft, westliche Kultur und Alltagspraxis durchformende methodische Atheismus lässt nicht nur Religion tendenziell zu Aberglauben oder beliebiger Privatsache werden, sondern führte längst schon zur Deontologisierung unseres Lebens- und Wirklichkeitsverständnisses. Vernünftig ist, was kommunizierbar im vernünftigen Konsens bleibt: Dieser geht davon aus, dass erstens Seinsaussagen zur wirklichen Wirklichkeit unmöglich seien, und dass zweitens Kontingenz alle Ereignisse des Lebens regieren würde.

Für die Existenzialisten vor 60 Jahren wurden der Tod Gottes, kosmische Gleichgültigkeit, Nihilismus und Absurdität zu Katalysatoren für die heroische Entscheidung des Menschen zur selbsttranszendenten Solidarität, für das absurde Opfer zur Erlangung menschlicher Würde. Die konzeptionelle Nähe zum religiösen Fanatismus der Gotteskrieger wird spätestens hier hermeneutisch aufgreifbar: Solidarität, die notwendig auch blutig radikaler Opfer bedarf, Mut zur Rebellion gegen die herrschende Klasse, Bruderliebe mit Feindeshass.

Der Zweck heiligt die Mittel

All dies als heroische Mittel zum Zweck emanzipierter Selbstbehauptung gehörte zur Tugendlehre des Kommunismus. Dessen klassenkämpferische Ideologie fand im Existenzialismus einen authentischen Gesinnungsgenossen.

Auch im „Heiligen Krieg“ der heutigen Jihadisten heiligt der Zweck die Mittel, wird globale Solidarität der Glaubensbrüder eingeworben zur fanatischen Realisierung der Utopie. Nicht die klassenlose Gesellschaft, sondern der Gottesstaat rechtfertigt postmodern als utopisches „Neverland“ die Anwendung von Gewalt.

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DER AUTOR



Univ.-Prof. Dr. Dr. Erwin Möde
(*1954 in Landshut) ist Ordinarius für Christliche Spiritualität und Pastoraltheologie an der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt. Er ist Diözesanpriester, Psychologe und Mitglied der Europäischen Akademie der Wissenschaften und Künste in Salzburg. [ S. Kießing ]

("Die Presse", Print-Ausgabe, 05.03.2015)

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