Das Ende von Flug 4U 9525: Schwarz. Grausam. Sinnlos.

Pressestimmen. Überall wird nach Erklärungen für das Verhalten von Andreas L. gesucht, der vorsätzlich einen Jet-Absturz verursachte.

„Berliner Zeitung“ Kalkuliertes Sterben

Berlin. „Diese Tat, ihre Willkür, ihre Unvorhersehbarkeit, entzieht sich unseren Bewältigungsversuchen. Sie steht vor uns. Schwarz. Grausam. Sinnlos. Selbsttötungen und erweiterte Selbsttötungen, wir nennen sie Amokläufe, sind immer irrational, immer unbegreiflich.

Sie hinterlassen die Familien der Opfer und genauso die Angehörigen der Täter in Trauer und später oft mit großer Wut. Zugleich fühlen sich die Hinterbliebenen mitschuldig. Denn immerhin standen sie mit dem Selbstmörder in einer Beziehung – sie waren Mutter, Vater, Kind, Freund, Lehrer, Konkurrent oder Klassenkamerad. Die einsamen und doch so grausamen Täter stellen ihnen mit ihrer Gewalt Fragen, mit denen sie umgehen lernen müssen im Leben.

Wir stellen uns Andreas L. als einsamen, verschlossenen, verzweifelten, kranken Menschen vor. Er hat kühl kalkuliert, wie er sterben will: Sein Suizid sollte eine, vielleicht die einzige Machtdemonstration in seinem Leben sein. Er hat uns gezeigt, wie ausgeliefert wir sind. Nicht der Technik, sondern selbst in friedlichen Zeiten einem einzigen Menschen. Und doch: Seine Tat ist singulär. Jeder trauernde, erschütterte Mensch, dem wir in diesen Tagen begegnen, beweist auch das Gegenteil, zeigt, dass Vertrauen möglich ist, zeigt, wie unrecht Andreas L. hat.“

„Neue Zürcher Zeitung“ Verstummte Stimmen

Zürich. „Die Staatsanwaltschaft Marseille nannte am Donnerstag den Namen des Kopiloten. Im Nu verbreitete sich der Name in den digitalen Kanälen der Nachrichtenanbieter. In den sozialen Netzwerken staut sich die Wut. Ein offensichtlich gefälschtes Twitter-Konto gibt den Mann den Schmähungen preis. Die Jagd ist eröffnet.

Niemand fragt, ob die Faktenlage schon klar ist und ob aus dem Mund der französischen Staatsanwaltschaft stets die Worte Gottes zu hören sind. Stumm sind jene zahlreichen Akteure, die sonst stets kritisch die Stimmen von Staatsvertretern kommentieren. Eine gewisse Vorsicht bei der Einordnung, Einschätzung und Wiedergabe von hochaktuellen Ereignissen wäre ein Gebot der selbstkritischen Vernunft.“

„General-Anzeiger“ Kosmos von Erklärungen

Bonn. „Die Suche nach Antworten setzt die Medien unter Druck. Wie sollen sie Sendezeiten füllen, Bilderstrecken bestücken und im Stundentakt immer neue Nachrichten anbieten? Wer auch immer etwas sagen möchte und auch nur den Anschein von Kompetenz erweckt, wird befragt und gibt freimütig Antworten, ganz gleich, ob die der Information dienlich sind oder einfach nur den großen leeren Raum voller offener Fragen füllen helfen. Der Spekulation wird Tür und Tor geöffnet. Es wird herumpsychologisiert und aus einem äußerst lückenhaften Kenntnisstand ein ganzer Kosmos von Erklärungen angeboten. Und dann wundern sich Journalisten, dass die Verschwörungstheorien blühen und Leser von der Lügenpresse reden.

Die Tat ist unerklärlich. Sie ist so schwer zu verstehen, weil es keine erkennbare Beziehung zwischen Opfern und Täter gibt [...]. Es gibt keine absolute Sicherheit. Solange es Flugzeuge gibt, wird es immer Möglichkeiten geben, sie als Waffe einzusetzen. Diese Möglichkeiten so gering wie möglich zu halten, ist jede Mühe wert. Viel wichtiger sind jedoch die Menschen, die diese Flugzeuge lenken. Sie tragen eine hohe Verantwortung. Es wird Zeit brauchen, das erschütterte Vertrauen in die Zuverlässigkeit von Piloten wieder aufzubauen. Auch das ist jede Mühe wert. Denn ohne Vertrauen wird es nicht gehen.“

„Die Welt“ Spurensuche beginnt

Berlin. „Nun wird man das ganze Leben von Andreas L. zerlegen und Spuren von Wahnsinn zu sichern versuchen. Oder von geheimen terroristischen Fantasien. Findet sich eine schwarze IS-Fahne in seinem Haus? Hinterließ er ein politisches Manifest, Rache für Osama Bin Laden, oder nur Belege für eine abgewiesene Liebe? Nichts ist absurd genug angesichts dieses unfassbaren Verbrechens. Weiters wird gefragt werden, was den jungen Kopiloten, der in der Verkehrsfliegerschule der Lufthansa in Bremen ausgebildet wurde, von Amokläufern unterscheidet, die in Schulen oder Universitäten wahllos Kinder erschießen. Wenig mehr als die Feigheit, seinen Opfern nicht einmal in die Augen gesehen zu haben.“

„Libération“ Lehren aus dem Absturz

Paris. „Können Lehren aus diesem Vorfall gezogen werden? Die erste ist, dass der Mensch trotz des technologischen Fortschritts weiterhin über die Maschine herrscht. Diese Beherrschung der Maschine durch den Menschen ist sowohl beruhigend als auch gleichzeitig beängstigend. Die zweite Lehre ist konstruktiver. Die ganze Welt hat gerade erfahren, dass Piloten nach Abschluss ihrer Ausbildung keine psychologischen Tests mehr ablegen müssen. Lediglich ihre technischen Fähigkeiten werden überprüft. In diesem Bereich besteht ganz offenkundig dringender Handlungsbedarf.“

„Die Tageszeitung“ Dilemma der Sicherheit

Berlin. „Dank umfangreicher Kontrollen der Passagiere vor dem Flug ist die Wahrscheinlichkeit einer Attacke aus dem Passagierraum auf den Piloten auf annähernd null gesunken. Das ist ohne Zweifel ein positiver Effekt. Und doch zeigt sich hier das Dilemma sämtlicher Sicherheitspolitik.

Denn nur aufgrund einer das Risiko senkenden Bestimmung hat der Kopilot von Flug 4U 9525 seinen unbegreiflichen Plan durchführen können. Er konnte die Tür zum Cockpit unwiderruflich verriegeln, um eine Störung aus dem Passagierraum zu verhindern. Eine Abwehrstrategie, die wunderbar funktioniert – solange der Pilot zu den Guten gehört. Dass auch das Gegenteil der Fall sein kann, hat niemand bedacht – oder es wurde bewusst in Kauf genommen.“

„Frankfurter Allgemeine“ Piloten sind keine Engel

Frankfurt. „Piloten sind zwar meistens gut bis sehr gut ausgebildet. Aber auch sie sind keine Engel, sondern nur Menschen, die müde werden und unter Stress Fehler machen können. Doch bisher galt es als ausgemacht, dass sie keine Selbstmörder sind [...]. Die Tragödie in den französischen Alpen widerlegt diese Annahme. Sie wirft auch ein grelles Licht auf andere bislang ungeklärte Abstürze, insbesondere auf den Fall der im Pazifik verschwundenen Maschine der Malaysia Airlines. Die Fluggesellschaften werden darauf mit einer Überprüfung und Verschärfung ihrer Auswahl- und Kontrollverfahren reagieren (müssen). Doch ein Restrisiko wird bleiben, solange Flugzeuge von Menschen geführt werden.“

„Berliner Morgenpost“ Wir alle leiden mit

Berlin. „Zum Schmerz und der Trauer über den Verlust der geliebten Menschen kommt nun die Fassungslosigkeit über diese Tat hinzu. Sinnlos – ja, das ist diese Tat wie jeder Terroranschlag auch. Aber das Wort ist gleichzeitig auch viel zu harmlos für das, was dort an Bord der Maschine geschehen ist. Wir alle – auch wir, die wir die Menschen an Bord, die Passagiere und die Crew, also die Kolleginnen und Kollegen des Kopiloten, nicht kannten – leiden mit. Nach den gestrigen Erkenntnissen ist unsere Trauer unermesslich geworden. Und in all das Leid mischen sich jetzt noch mehr Fragen.“

E-Mails an: debatte@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 28.03.2015)

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