Die regelhörige Gesellschaft grenzt sich immer mehr ein

Es bleiben dennoch Bereiche des Lebens, die sich einer Regelung entziehen.

Der Absturz des Airbus in den französischen Alpen hat Entsetzen ausgelöst. Aber sobald die Absturzursache klar war, setzte ein bekanntes Denkmuster ein: Die Regelung ist mangelhaft und muss deshalb um eine neue Regelung ergänzt werden.

Zur Vorgeschichte: Nach dem 11.September 2001 wurde eine rechtliche Bestimmung geschaffen, die vorsieht, dass Türen zum Cockpit von Passagierflugzeugen nur mittels eines Codes geöffnet werden können und einbruchsicher zu gestalten sind. Genau diese Regelung hat dazu geführt, dass der Ko-Pilot im Cockpit sein mörderisches Werk umsetzen konnte.

Aufgrund dieser Tatsache sind verschiedene Reaktionsweisen möglich: Die bestehende rechtliche Regelung kann hinterfragt werden. Nach aktuellem Wissensstand steht fest, dass der Absturz durch die bestehende Regelung zumindest vereinfacht wurde. Vielleicht ist also die rechtliche Regelung falsch und gehört aus dem Kodex gestrichen. Aber einen solchen Schritt des Hinterfragens bestehender Bestimmungen unternimmt niemand in einer Gesellschaft, die regelhörig ist.

Eine weitere Möglichkeit wäre, das Geschehene hinzunehmen. Jede Regelung hat ihre Lücken, kann umgangen werden und ist Missbrauch ausgesetzt. Das Hinnehmen erforderte freilich die Bereitschaft anzuerkennen, dass wir in unserem Handeln eingeschränkt sind. Vielmehr gilt: Der Mensch und die Technik als Fehlerfaktoren müssen beherrschbar sein. Nur Naturkatastrophen gegenüber darf Fatalismus geübt werden.

Behebung von Schwachstellen

Bleibt eine dritte Möglichkeit: Wir ergänzen die bestehende Bestimmung um eine weitere Bestimmung, um so eine offensichtliche Schwachstelle zu beheben. Inhalt der neuen Regelung könnte sein, dass ein Pilot oder Ko-Pilot nur dann das Cockpit verlassen darf, wenn statt seiner eine andere Person ins Cockpit kommt. Eine solche Rechtsnorm wird wohl nur so lange für gut gehalten, bis auch sie wieder eine Schwachstelle zeigt. Logische Folge wäre dann die Suche nach einer neuen Regelung, um die neu entdeckte Schwachstelle zu beheben.

Ruf nach immer neuen Regeln

Die Diskussion um eine weitere Regelung eröffnet jedenfalls den Blick auf eine Denkstruktur, die die Gesellschaft durchdringt: Kaum wird ein Fehler oder eine Schwachstelle erkennbar, ertönt der Ruf nach einer neuen rechtlichen Regelung. Auf diesem Weg wurden bereits unzählige Bestimmungen geschaffen. Wie zum Trotz finden sich aber immer neue Wege des Missbrauchs und neue Lücken.

Wir sind einerseits mit der Schaffung von rechtlichen Regelungen nicht der Verantwortung enthoben, diese Regelungen regelmäßig zu überprüfen, ob sie ihren Zweck noch gut erfüllen. Andererseits kann Recht nicht alle Fragen und Probleme lösen. Recht ist an vielen Stellen ein wertvolles Instrument einer modernen Gesellschaft. Aber das Instrument des Rechts ist selbst beschränkt.

Es bleiben Bereiche des Lebens, die sich der Regelung durch Gesetz, Verordnung und Gericht entziehen. Diese Bereiche betreffen das Schicksalhafte, das es manchmal als nicht mehr abänderbar anzunehmen gilt. Sie betreffen auch Ethik und Moral, insbesondere die Frage nach Verantwortung und Eigenverantwortung, sowie zwischenmenschliche Bindungen wie Vertrauen und Liebe. Sie gehen jeder rechtlichen Gestaltung voran.

Bei aller Fokussierung auf das Recht übersehen wir oft die notwendige Auseinandersetzung mit diesen Bereichen außerhalb des Rechtlichen, deren Bestehen Voraussetzungen geglückten und zufriedenen Zusammenlebens sind.

Johannes Berger ist Jurist und Theologe und arbeitet als Personalleiter in einem großen Vorarlberger Industrieunternehmen.

E-Mails an: debatte@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 16.04.2015)

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