Marx, steig aus dem Grab und gib Ortner eine Kurzlektion

Der Verkünder des Vulgärliberalismus als wirtschaftsextremistischer Possenreißer.

Man kann die Bibel lesen und für ein großartiges Stück Weltliteratur halten, ohne ihre Folgerungen zu teilen. Selbiges gilt für „Das Kapital“ von Karl Marx. Und: Man sollte Bücher erst lesen, dann kritisieren. In Sachen „Kapital“ hat Christian Ortner in seinem letztwöchigen „Quergeschrieben“ (17.4.) ohne vorherige Lektüre eine Mischung aus Unkenntnis, Ignoranz und Ressentiment serviert. Er hat das „Kapital“ nicht einmal in der Hand gehabt. Sonst wüsste er, dass es nicht 700, sondern fast 1900 Seiten hat.

Marx (dem man ziemlich viel vorwerfen kann) als „Antisemiten“ zu bezeichnen, ist – gegenüber einem Juden – seinerseits ein antisemitischer Topos. Marx verstand den Antisemitismus als „Instrument zur Verschleierung von Klassengegensätzen“. Ebenso Engels: „... dient nur reaktionären Zielen“.

Marx die Verwendung des Wortes „Neger“ anzulasten ist kindisch. Politische Korrektheit war damals noch nicht erfunden. (Die Antwort darauf, wie weit Marx rassistische und antijüdische Vorurteile seiner Zeit teilte, ist zu komplex, um sie Ortner zu überlassen.)

Auf Basis solch solider Inkompetenz von „unappetitlichem Paradigmenwechsel“ zu sprechen, weil bei der Biennale eine Lesung des „Kapitals“ stattfindet, ist halt systemimmanent beim Betreiben eines „Zentralorgans des Neoliberalismus“. Man weiß ja, was es mit Zentralorganen auf sich hat. Sie sind in Demokratien zu Recht den Weg alles Irdischen gegangen.

Von Kautsky bis Stalin

Wenn man an dieser Lesung etwas kritisieren kann, dann die Berufung auf ein wirres Gemisch historischer Personen: Engels, Kautsky, Lenin, Rosa Luxemburg, Trotzki, Stalin und Gramsci in einem Atemzug. Das ist wahrhaft „unappetitlich“, aber dem unkundigen Auge Ortners entgangen, dem es um die Diffamierung einer sozialen Bewegung geht, die seine Ansichten nicht teilt. Das zeigt sein Hinweis auf die „Millionen Toten“ des „real existierenden Sozialismus“. Stellen wir klar: Christus ist nicht für Hexenverbrennungen verantwortlich, Nietzsche nicht für Hitler, Marx nicht für Stalin & Co. – und Adam Smith nicht für die Millionen Toten des Kapitalismus.

Ungustiöse Aufrechnung

Hätte Ortner „Das Kapital“ gelesen oder sich sonst wie für die Opfer der Menschheitsgeschichte interessiert, wüsste er, wie viele davon allein die ursprüngliche Kapitalakkumulation forderte! Wenn irgendetwas ungustiös ist, dann die von Ortner inszenierte Aufrechnung von Opfern. Der Neoliberalismus à la Ortner ist eine totalitäre Ideologie, die uns derzeit („alternativlos“!) in Richtung eines autoritären Kapitalismusmodells drängt.

Selbst der marxistischer Umtriebe eher unverdächtige Erich Streissler hat empfohlen, in der Krise Marx („ein ausgezeichneter Ökonom“) zu lesen. Besäße Ortner – über seine Vorurteile hinaus – ökonomische Bildung, wüsste er, dass Hayeks Kapitalismustheorie (siehe „The Pure Theory of Capital“) nur wenig von der Marx'schen trennt (bei disparaten ideologischen Schlussfolgerungen). Und Schumpeter rekurrierte auf den Zerstörungsbegriff im „Kapital“ (wendete ihn aber ins Positive).

All das kann dem Betreiber eines Zentralorgans piepegal sein. Zentralorgane verbreiten ihrer Natur nach absolut Wahres. Ortner verfällt dabei in einen sinnentleerten Vulgärliberalismus. Das ist traurig. Denn – was zu wenig diskutiert wird – in ihrer Staatsskepsis sind sich Liberale und Marx sehr nahe. Solang aber wirtschaftsextremistische Possenreißer Unfug treiben, wird das Gespenst Marx wohl noch öfter aus dem Londoner Grab klettern – möge es Ortner eine Kurzlektion „Das Kapital lesen“ erteilen.

Michael Amon lebt als Romancier und
Essayist in Wien und Gmunden und ist geschäftsführender Gesellschafter einer kleinen Steuerberatungskanzlei.

E-Mails an: debatte@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 24.04.2015)

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