Die bizarre Angst der Österreicher vor dem Chlorhuhn

Freihandel ist immer eine große Chance – wenn man sie richtig nützt.

Vom britischen Wirtschaftswissenschaftler David Ricardo (1772–1823) haben wir gelernt, dass der Handel, aufbauend auf komparativen Kosten, den größten Nutzen bringt. Jedes Land soll das produzieren, was es am kostengünstigsten herstellen kann. England hat mit Portugal nach diesen Prinzipien einen Handelsvertrag geschlossen: England begünstigte den Portwein und Portugal im Gegenzug englische Textilien. In weiterer Folge blieb Portugal am Portwein hängen, während England damit anfing, Dampfmaschinen, Stahl und Lokomotiven zu produzieren.

Meine ersten wirtschaftspolitischen Erfahrungen machte ich mit der Autarkiepolitik in Europa. Jedes Land sollte alles produzieren, was es konsumiert. Und es war nicht nur der Vierjahresplan des Hermann Göring, auch Österreich betrieb Autarkiepolitik, etwa auf dem Agrarsektor. Da erfand man ein tarifarisches Handelshindernis und ließ aus Ungarn nur Rinder einführen, die – um ihre Gesundheit zu fördern – auf Almen über 1000 Meter gesömmert worden waren. Leider hatten die Ungarn keine Almen über 1000 Meter.

Nach dem Zweiten Weltkrieg machte die Marshallplanhilfe Schluss mit der Autarkie, und die Teilnehmer an dem Programm mussten ihre Märkte öffnen. Österreichs Wirtschaft ergriff ihre Chance, und alles in allem war das der erste Wachstumsschub für die heimische Wirtschaft. Die Hilfe der Amerikaner bildete die Grundlage unseres kleinen Wirtschaftswunders, aber ebenso auch des großen Aufschwung Deutschlands.

Angst vor einer Marktöffnung

Nach dem Zusammenbruch des Ostblocks 1989 machten wir in Österreich eine ähnliche Erfahrung. Die Öffnung der östlichen Märkte ermöglichte uns einen zweiten Wachstumsschub, der jetzt leider am Auslaufen ist. Die Lebensmittelarbeitergewerkschaft und die Lebensmittelindustrie wehrten sich jahrzehntelang gegen die Öffnung des heimischen Marktes für Produkte der Lebensmittelindustrie anderer Länder. Angeblich war man nicht konkurrenzfähig. Als man aber den Markt öffnen musste, stellte sich heraus, dass unsere Lebensmittelindustrie auf den Auslandsmärkten ganz erstaunliche Exporterfolge erzielen konnte.

Minderwertigkeitskomplex

Nun stehen wir vor einer neuen Marktöffnungsoffensive: Freihandel zwischen der Europäischen Union und den Vereinigten Staaten. Die Europäer, aber ganz besonders die Österreicher haben – wie demoskopische Untersuchungen zeigen – einen unübersehbaren Minderwertigkeitskomplex.

Bei der Frage nach der Dominanz auf dem Gebiete der Musik etwa glauben sie, dass die USA dominieren. Als ob sie noch nie etwas gehört hätten von Barockmusik, klassischer Musik oder romantischer Musik, ohne die es ein amerikanisches Musikleben gar nicht gäbe. Unzweifelhaft ist der Jazz eine amerikanische Entwicklung, aber die europäische Gegenoffensive waren die Beatles und die Rolling Stones.

Besonders groß ist die Angst der Österreicher vor amerikanischen Lebensmitteln, angefangen beim Chlorhuhn bis hin zu gentechnisch veränderten Agrarprodukten. Wären all die Behauptungen der Vertreter der Agrarlobby richtig, müsste die amerikanische Bevölkerung von schrecklichen Allergien geplagt sein.

Aber noch einmal zurück zu Ricardo: Wenn zwei Wirtschaftsräume ihre Handelsbeziehungen erweitern, kommt es eben darauf an, was man daraus macht. Freihandel ist immer eine Chance – und wenn man sie nicht nützt, bleibt man wie einst Portugal auf einem einfachen Produkt sitzen.

Dr. Heinz Kienzl (* 1922 in Wien) war von 1973 bis 1988 Generaldirektor der
Oesterreichischen Nationalbank.

E-Mails an: debatte@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 08.05.2015)

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