Wladimir Putins Kampf um Relevanz

Die russischen Feierlichkeiten zum Siegestag weisen nicht in die Zukunft, sondern in die Vergangenheit. Und so groß die morgige Militärparade auf dem Roten Platz auch sein wird – die Wahrheit wird sie nicht verbergen können.

Die Maiparade in Moskau aus Anlass des 70. Jahrestages der Beendigung des Zweiten Weltkrieges verspricht, die größte derartige Feier seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion zu werden. Rund 16.000 Soldaten, 200 Panzerfahrzeuge und 150 Flugzeuge und Hubschrauber sollen über den Roten Platz rollen bzw. darüber hinwegfliegen. Es wird eine Kulisse, die sowjetischen Staats- und Parteichefs wie Leonid Breschnjew oder Michail Gorbatschow, die vom Lenin-Mausoleum aus derartige Paraden abnahmen, durchaus vertraut wäre.

Doch obwohl Russlands Verbündete im Zweiten Weltkrieg aus Europa und Nordamerika stammten, werden an den diesjährigen Feierlichkeiten keine Staats- oder Regierungschefs aus dem Westen teilnehmen – was die westliche Ablehnung von Putins Intervention in der Ukraine und seiner Annexion der Krim widerspiegelt. Stattdessen werden zu Putins hochrangigen Gästen führende Politiker aus China, Indien, Kuba und Südafrika gehören, was zeigt, welche Freunde Russland dieser Tage tatsächlich noch hat.

X-Men back in the USSR

Der surreale Charakter dieser Zusammenkunft zeigt die zunehmend bizarre Beschaffenheit des Putin-Regimes. Tatsächlich erinnert das heutige Russland den Betrachter an die letzte Fortsetzung der X-Men-Filmreihe, „Zukunft ist Vergangenheit“. Genau wie sich die X-Men in dem Film mit jüngeren Versionen ihrer selbst zusammentun, um der Menschheit eine Zukunft zu gewährleisten, orientiert sich der Kreml heute in dem, was er als zeitgenössischen Überlebenskampf des Landes betrachtet, an Russlands sowjetischer Vergangenheit.

Damit diese Strategie funktioniert, wirft die russische Propaganda den heutigen Westen mit den Deutschen, die 1941 Russland überfielen, in einen Topf und stellt zugleich die Vertreter der ukrainischen Regierung als „Faschisten“ und „Neonazis“ dar. Der Kreml stützt sich auf solche Behauptungen sowie die vorgebliche Notwendigkeit, Russen im Ausland zu verteidigen, um seine Aggression gegen die Ukraine zu rechtfertigen. In seiner Rede nach der Annexion der Krim behauptete Putin, die Weigerung des Westens, „in einen Dialog einzutreten“, habe Russland keine andere Wahl gelassen. „Wir schlagen kontinuierlich eine Zusammenarbeit in allen wichtigen Fragen vor“, erklärte er. „Wir möchten unser Vertrauensverhältnis stärken und streben nach gleichberechtigten, offenen und fairen Beziehungen. Doch wir haben keine entsprechenden Schritte der anderen Seite gesehen.“

Dasselbe Bild der Russen als moralisch überlegener Opfer eines grausamen, kompromisslosen Westens verstärkte Putin einen Monat später erneut. „Wir sind weniger pragmatisch als andere, weniger berechnend“, behauptete er und fügte hinzu, dass Russlands „Großartigkeit“ und „enorme Größe“ bedeuteten, dass „wir ein großzügigeres Herz haben“.

Es ist nicht schwer, die Parallelen zwischen Putins Strategie und der Josef Stalins zu erkennen, der zu Beginn des Zweiten Weltkriegs erklärte, der „Feind“ ziele darauf ab, Russlands „nationale Kultur“ zu zerstören, seine Menschen zu „germanisieren“ und zu „versklaven“. Der Unterschied ist natürlich, dass die nationalsozialistische Wehrmacht tatsächlich in der Sowjetunion einmarschiert war, während die Ukraine lediglich ihre Zukunft selbst bestimmen wollte.

Enormer sowjetischer Beitrag

Ohne Stalin verteidigen zu wollen, muss man den enormen sowjetischen Beitrag zum Sieg der Alliierten im Zweiten Weltkrieg anerkennen. Allein 26 Millionen Bürger ließen dabei ihr Leben. Einst war die Militärparade auf dem Roten Platz mit nahezu 35.000 Soldaten, bis zu 1900 Stücken an Militärausrüstung und einem 1400 Mann umfassenden Orchester ein wohlverdientes Spektakel. Die Sowjetführung scheute bei der Ausrichtung militärischer Darstellungen keine Kosten, und in Ermangelung einer militärischen Bedrohung von außen wurden diese zu einem wichtigen Instrument zur Förderung der nationalen Einheit.

Wie einst in Vichy-Frankreich

Nach dem Kollaps der Sowjetunion allerdings legte Russland – inzwischen keine Supermacht mehr – seine Militärspektakel auf Eis. Doch 2005, anlässlich des 60. Jahrestages der Beendigung des Zweiten Weltkrieges, hielt Putin eine große Parade ab, an der auch westliche Spitzenpolitiker, die damals noch glaubten, dass Russland eine Zukunft innerhalb Europas haben könnte, teilnahmen.

Der Ton der diesjährigen Feierlichkeiten zum Siegestag ist deutlich weniger zukunftsgerichtet. Wie kann man das Ende eines Krieges feiern, wenn zugleich die Nachfahren jener, die diesen Krieg (fraglos in der Hoffnung, dass künftige Generationen in Frieden würden leben können) bestritten, einander in einem brutalen Kleinkrieg in der Ostukraine umbringen? Was soll ein grandioses Feuerwerk inmitten von echtem Haubitzen- und Raketenbeschuss?

Der Historiker Robert Paxton schrieb, man könne anhand der Paraden eines Landes viel über das Land selbst aussagen. In seinem 1966 erschienenen Buch „Parades and Politics at Vichy““ beschreibt er, wie Philippe Pétain als Staatschef von Vichy-Frankreich Paraden, eine reaktionäre Politik und seine Partnerschaft mit Adolf Hitler nutzte, um in seinem besiegten Land den falschen Glauben zu erwecken, es spiele weiter eine wichtige Rolle in der Welt. Die vom Vichy-Regime vertretene Art von autoritärem Traditionalismus idealisierte Familie und Vaterland, wobei Pétain auf der Tribüne als eine Art Militärkönig fungierte.

Putin, der neue Zar

Die Parallelen zu Putins Russland sind unübersehbar. Putin sieht sich selbst als neuen Zaren. Sein KGB-Hintergrund diktiert seinen Führungsstil, der die Abschaffung freier und gleichberechtigter Wahlen, die Verfolgung politischer Gegner und die Förderung konservativer Werte (die er wie Pétain vor ihm dem korrumpierenden Einfluss eines „unmoralischen“ und „dekadenten“ Westens gegenüberstellt) einschließt.

Hiervon ausgehend, hat Putin Bündnisse zu Leuten wie dem syrischen Präsidenten Bashar al-Assad und Ägyptens Militärherrscher Abdel Fatah al-Sisi geknüpft. China, die zweitgrößte Volkswirtschaft der Welt, ist in dieser Sammlung befreundeter antidemokratischer Staaten eine nützliche Ergänzung, da es seine eigenen strategischen Probleme mit dem Westen hat.

Anders als China jedoch ist Russland keine aufstrebende Supermacht. Putin mag versuchen, sein Handeln in der Ukraine als Kampf gegen den Faschismus darzustellen. In Wahrheit jedoch ist es ein Kampf um Relevanz, den er nicht gewinnen kann. Egal, wie grandios die Parade ausfällt, Putin kann die Wahrheit nicht verbergen: Russlands Tage als Supermacht sind perdu. Putins Patriotismus – wie der Pétains – ist ein Patriotismus der Verlierer.

Aus dem Englischen von Jan Doolan

Copyright: Project Syndicate, 2015.

E-Mails an: debatte@diepresse.com

DIE AUTORIN



Nina L. Chruschtschowa
(*1964) studierte an der Moskauer Staatsuniversität und dissertierte an der Universität Princeton. Sie ist die Enkelin des früheren Sowjetführers Nikita Chruschtschow. Derzeit Dekanin an der New School University in New York und Senior Fellow am World Policy Institute, dessen Russland-Projekt sie leitet. [ Project Syndicate ]

("Die Presse", Print-Ausgabe, 08.05.2015)

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