Die Geburt ist im Evolutionsprogramm verankert

Der Kaiserschnitt ist Teil der modernen Gesellschaft: Wir können fliegen, wir sind vernetzt und hochmobil. Planung und Sicherheit gelten als fixe Bestandteile unseres Lebens.

Im Durchschnitt wird in Österreich jedes vierte, im Burgenland sogar jedes dritte Kind mit Kaiserschnitt entbunden. Über Jahrzehnte hinweg betrug die Kaiserschnittrate zehn Prozent. Pathologische Geburten werden auf zehn bis 15% geschätzt. Daher empfiehlt die WHO eine Kaiserschnittrate dieser Größenordnung. Innerhalb weniger Jahre hat sich die Kaiserschnittrate nahezu verdoppelt. Wo liegen die Gründe dafür?

Für die zehn bis 15% pathologischer Geburten ist die moderne Sectio tatsächlich ein Fortschritt. Es gibt kaum mehr durch den Geburtskanal gequälte Neugeborene, die auf der Intensivstation landen, und das ist gut so! Aber wie erklären sich die restlichen Prozent? Es gibt absolute Indikationen für den Kaiserschnitt, aber eben auch relative, die man von Fall zu Fall diskutieren muss. In strittigen Fällen wird die vermeintliche Sicherheit des Kaiserschnitts fast immer der vaginalen Geburt vorgezogen. Diese Entwicklung ist zu hinterfragen. Man darf die Diskussion um die Geburt nicht mehr nur den smarten Gynäkologen und den verschrobenen Gentechnikern überlassen.

Die Geburt ist im Evolutionsprogramm des Menschen tief verankert und hat enormen Einfluss auf die körperliche und seelische Grundbefindlichkeit. Jeder Eingriff in dieses Programm muss mit großer Sorgfalt und hohem Verantwortungsbewusstsein entschieden werden, da sich die Folgen erst in den nächsten Generationen zeigen.

Eine Schwangerschaft dauert im Regelfall neun Monate. In dieser Zeit kann sich die Frau auf die Geburt vorbereiten. Es ist dies auch die Zeit, um Unsicherheiten und Ängste durch umfassende Information abzubauen.

Alle Sinne werden angesprochen

Der Geburtsvorgang wird durch das Kind ausgelöst. Bei der Gebärenden wird die Großhirntätigkeit reduziert, „primitive“ Hirnanteile (Hypothalamus und Hypophyse) übernehmen das Kommando, das „archaische“ Hirn sorgt für die Ausschüttung des Liebeshormons Oxytocin. Durch die Freisetzung von Endorphinen kann die Geburt in einer Art Rauschzustand beginnen. Die Mutter ist wie in einer anderen Welt. Die Großhirnrinde soll nicht durch Sprache, grelles Licht oder sonstige störende Einflüsse in Anspruch genommen werden. Alle Geburtshindernisse liegen im „neuen“ Hirn (Großhirn).

Das Kind ist im Rhythmus der Wehen aktiv am Geburtsvorgang beteiligt. Alle fünf Sinne sind angesprochen. Während der gesamten Schwangerschaft speichert das Kind durch die Enge der Gebärmutter die Grenzen seines Körpers. Diese erste Körpererfahrung ist für das gesamte weitere Leben prägend. Der Schritt von der Enge der Gebärmutter in die weite Welt bestimmt in der Folge die Nähe/Distanz-Wahrnehmung und damit all unsere sozialen Begegnungen.

Jedes Neugeborene ist ein orales Lebewesen – schmeckt, schmatzt und leckt während der gesamten Geburt und wird beruhigt mit dem gewohnten Geschmack des Fruchtwassers. Beim Geburtsaustritt kommt ein neues Geschmackserlebnis dazu.

Da Geschlechts- und Ausscheidungsorgane in räumlicher Nähe stehen, erfolgt bei der physiologischen Geburt die Erstbesiedelung des Darmes mit Keimen der Mutter. Beim Kaiserschnitt im OP regiert der Zufall. Welcher Keim macht das Rennen? Die Darmflora eines Neugeborenen ist eng verknüpft mit seinem Wohlbefinden. Irritationen der Darmflora führen zu Blähungen.

Der Geruchssinn ist eng an den Geschmackssinn gekoppelt und ein tiefer innerer Instinkt. Mutter und Kind riechen einander und nehmen auf diesem Wege ein starkes Liebeserlebnis wahr. Im Operationssaal hingegen dominieren Gerüche, die wegen der Hygienemaßnahmen notwendig sind. Und auch die Geräuschkulisse des Operationssaales (Klappern von Instrumenten, Maschinengeräusche u.a.) ist fremd.

Das erste Sehen beginnt mit der Geburt. Während der Schwangerschaft kann eventuell der Unterschied von Tag und Nacht wahrgenommen werden, während der Geburt, einem Zeitraum von doch einigen Stunden, kommt man dem Licht langsam näher. Ein Großteil aller Kinder kommt bei gedämpftem Licht, in der Dämmerung, nachts oder im Morgengrauen, zur Welt. Beim Kaiserschnitt kann der rasche Übertritt in das grelle Licht des Operationssaals zu Netzhautirritationen führen. Alle Sinne sind bei der physiologischen Geburt stark und über einen längeren Zeitraum in Koordination zueinander gefordert. Beim Kaiserschnitt sind durch das auf Minuten verkürzte Ereignis die Sinnesorgane überfordert. Dieser gestörte Reifungsprozess muss im schlimmsten Fall im späteren Leben nachgeholt werden.

Durch die massive Oxytocinausschüttung mit Beginn der Wehen bekommt die kindliche Lunge einen letzten Reifungsschub. Im Geburtskanal werden die Rippen im Rhythmus der Wehen über Stunden komprimiert und entspannt. Dadurch erfährt die Lunge Druck und Dehnung. Beim Geburtsaustritt schnellen die Rippen in den Ausgangszustand, was für das Kind den Impuls für den ersten Atemzug darstellt. Beim Kaiserschnitt ist dieser Vorgang auf Sekunden reduziert. Daher gerät der erste Atemzug zu einem Schreckatemzug, zu einem Ringen nach Luft.

Mutter und Kind in Ausnahmesituation

Warum zerstören zivilisierte Gesellschaften leichtfertig den ersten Kontakt nach der Geburt? Diese Frage drängt sich auf, wenn man weiß, wie sehr Mutter und Kind bei der Geburt in einer Ausnahmesituation verbunden sind und dabei eine der intensivsten menschlichen Liebesformen entwickeln. Als wissenschaftlich gesichert gilt, dass Trennungen bei der Geburt aggressionsfördernd sind und frühes Bonding von enormer Bedeutung für die Mutter-Kind-Beziehung ist.

Der moderne Kaiserschnitt ist relativ gefahrlos. Das ist einerseits Fortschritten in der Anästhesie zu verdanken, andererseits der verbesserten Operationstechnik. Es kommt zu geringerem Blutverlust und kürzerer Operationszeit. Er wird aber nach wie vor von nahezu allen Frauen als Notlösung gesehen. Die Wunschkaiserschnittrate beträgt nur zwei Prozent aller Kaiserschnitte.

Der Kaiserschnitt ist Teil der modernen Gesellschaft: Wir können fliegen, wir sind vernetzt und hochmobil. Planung und Sicherheit gelten als fixe Bestandteile unseres Lebens. Prof. Husslein, Chefgynäkologe im Wiener AKH, erklärt mit professoraler Arroganz, der Kaiserschnitt sei wie eine Gondelfahrt oder Zahnextraktion. Er bagatellisiert den Kaiserschnitt, weil er die Physiologie der Geburt vergessen oder niemals gelernt hat. Als Gutachter der Nation sorgt er bei geburtshilflichen Rechtsstreitigkeiten häufig wie ein Inquisitor dafür, dass sich seine in Fachkreisen umstrittene Lehrmeinung durchsetzt. Die Husslein'sche Monopolstellung ist sachlich nicht gerechtfertigt. Die Hebammentätigkeit ist sehr komplex und daher auch nur von dieser Berufsgruppe zu begutachten.

Soll man das Rad der Zeit zurückdrehen? Die Antwort lautet: Nein! Nach rein wissenschaftlichen Kriterien gibt es keine Widersprüche zwischen modernem Kaiserschnitt und physiologisch-vaginaler Geburt. Bei jeder pathologischen Geburt ist der Kaiserschnitt die ideale Lösung. Wie keine Frau der anderen gleicht, gleicht keine Geburt der anderen. Daraus ergibt sich, dass individuell entschieden werden muss.

Altes Wissen – neue Erkenntnisse

Dabei nötig ist die Übereinstimmung von Mutter, Hebamme und Arzt. Alle Beteiligten müssen sich über Vor- und Nachteile des Kaiserschnitts für Mutter und Kind bewusst sein. Nachteile betreffen nicht nur Neugeborene, bei denen möglicherweise das Stillen erschwert ist. Sie machen sich auch als Langzeitfolgen wie Asthma bronchiale, Autismus, Lebensmittelallergien, Anorexie, Drogenanfälligkeit und verschiedene psychische Defizite bemerkbar.

Möglichst viele Frauen wollen eine physiologische Geburt erleben. Der Weg dorthin führt über Angstabbau bei Frau, Hebamme und Arzt sowie Vermeidung künstlich hergestellter Unsicherheiten. Das vordringliche Anliegen ist nicht, die Kaiserschnittrate zu senken, denn das wäre gefährlich, wenn nicht ein anderer Schritt vorangeht. Wir alle müssen ein besseres Verständnis der Geburt entwickeln. Im Informationszeitalter ist es möglich, dass man nicht jede technische Neuerung für die große Wahrheit hält, sondern auch gewachsenes Wissen schätzt und mit den neuen Erkenntnissen kombiniert.

DDr. Ferdinand Sator ist Konsiliarfacharzt für Kinderheilkunde auf der geburtshilflichen Abteilung Korneuburg und untersucht jährlich 600 bis 700 Neugeborene.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 30.04.2009)

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