Griechenland als „Wiederholungstäter“

Seit seiner Unabhängigkeit war der griechische Staat schon viermal pleite: 1843, 1860, 1893 und 1932. Und was lernen wir aus der Geschichte für die aktuelle Krise? Offenkundig, dass wir aus der Geschichte nichts gelernt haben!

Nach dem deutlichen Nein der Griechen zum Reformpaket der internationalen Gläubiger werden die kommenden Tage wohl richtungsweisend für die zukünftige wirtschafts- und gesellschaftspolitische Ausrichtung der „Wiege der Demokratie“ sein. Das Ausscheiden eines Landes aus der europäischen Gemeinschaftswährung – für viele bis vor Kurzem ein undenkbares Szenario – wird damit immer wahrscheinlicher.

Historisch gesehen käme es nicht wirklich überraschend. Bezüglich seiner Konflikte mit ausländischen Gläubigern ist Griechenland gewissermaßen „Wiederholungstäter“. Ein Blick in die Geschichtsbücher hätte den europäischen Staatslenkern womöglich zahlreiche Verhandlungsrunden, mit Sicherheit aber manche Sorgenfalte erspart.

Einsamer Spitzenreiter

Seit seiner Unabhängigkeit 1830 ging der griechische Staat viermal bankrott: 1843, 1860 und 1893 wegen explodierender Militärkosten durch Kriege und Konflikte mit den Osmanen, 1932 infolge der Weltwirtschaftskrise. Mehr als die Hälfte der Zeit von der Staatsgründung bis 2008 war durch Auslandsschuldenkrisen gekennzeichnet.

Zur Einordnung: Staaten wie Österreich oder Frankreich erlebten im vergleichbaren Zeitraum ähnlich viele Staatsschuldenkrisen, deren Lösung zog sich jedoch nicht annähernd so lange hin wie im Falle Griechenlands. In der sehr langen Frist – das heißt über beinahe zwei Jahrhunderte betrachtet – ist Griechenland hierbei einsamer Spitzenreiter in Europa und spielt weltweit in einer Liga mit Staaten wie Angola, Elfenbeinküste oder Honduras.

Noch ehe es den Staat offiziell gab, war Griechenland bereits hoch verschuldet. Der Unabhängigkeitskrieg gegen das Osmanische Reich verschlang gewaltige Summen. Zu seiner Finanzierung akquirierte die provisorische Regierung Gelder im Ausland und emittierte Anleihen um mehrere Millionen Pfund an der Londoner Börse – freilich gegen überaus hohe Risikoaufschläge. In den anhaltenden Kriegswirren stellte Griechenland 1827 seinen Schuldendienst an das Ausland ein. Der erste griechische Regent, König Otto I., ein Sohn Ludwigs I. von Bayern und Protégé der europäischen Großmächte, wollte in dem vom Unabhängigkeitskrieg zerrütteten Land eine effektive Finanzverwaltung nach bayerischem Vorbild installieren, ließ es dabei aber an Gespür für Gesellschaftsstruktur und politisches Verständnis der Griechen fehlen.

Ottos Reformprojekt war zum Scheitern verurteilt: Den von ihm ausgesandten Steuereintreibern widersetzte sich das Volk zum Teil mit Waffengewalt. Auch gegen die vom (katholischen) König angeordnete Schließung orthodoxer Klöster gab es heftigen Widerstand. 1862 wurde der Monarch von seinen Untertanen aus dem Land vertrieben.

Geld für die Aufrüstung

Inzwischen war Griechenland bereits mehrfach wegen Nichterfüllung seiner Zahlungsverpflichtungen auf den internationalen Finanzmärkten für weitere Anleihen gesperrt worden. Erst in den späten 1870er-Jahren erreichte die mit ehrgeizigen ökonomischen und geopolitischen Zielen angetretene Regierung von Ministerpräsident Charilaos Trikoupis eine Neuzulassung. Wieder nahm Athen hohe Geldsummen im Ausland auf. Überhaupt rief die positive wirtschaftliche Entwicklung des Landes vermehrt ausländische Spekulanten und Investoren auf den Plan.

Doch mit der Wirtschaftskrise ab Anfang der 1890er-Jahre und dem stetigen Anwachsen des griechischen Schuldenberges kippte die Stimmungslage sehr schnell – spätestens dann, als sich herausstellte, dass ein Großteil der Kredite in die Aufrüstung der Armee und den Erhalt des Staatsapparates, kaum hingegen in den Ausbau der Infrastruktur geflossen war.

Hinzu kamen innenpolitische Querelen, in denen sich Regierung und Opposition gegenseitig die Verantwortung am Schuldendilemma zuschoben. Athen geriet zunehmend unter Druck und musste Ende 1893 den Staatsbankrott verkünden, was die internationale Presse mit einem Griechenland-Bashing kommentierte.

Zur Begleichung seiner Schulden erklärte sich Griechenland erst fünf Jahre später bereit, als es nach einer militärischen Niederlage gegen die Osmanen das besetzte Thessalien freikaufen musste. Das Land benötigte dafür abermals ausländische Geldmittel. Die europäischen Großmächte übernahmen die Garantie für eine neue Anleihe, natürlich nicht ohne Gegenleistung: Nicht zum letzten Mal in ihrer Geschichte mussten sich die stolzen Griechen unter ausländische Finanzkontrolle begeben.

Ausländische Finanzkontrolle

Eine internationale Kommission hielt in Athen Einzug, kontrollierte fortan einen guten Teil der Staatseinnahmen und wachte über die Rückzahlung der Kredite. In diesem Bereich arbeitete die Kommission tatsächlich sehr effektiv, wiewohl (oder vielleicht gerade weil) sie ihre Tätigkeit als eine rein administrative verstand. Zwar regte sie bei der Regierung auch Maßnahmen gegen Korruption und Betrug an, verfolgte deren Umsetzung aber weit weniger beharrlich als die Einhaltung der Zahlungsverpflichtungen Athens gegenüber seinen ausländischen Gläubigern.

Eine Reform der griechischen Finanzverwaltung unterblieb – mit ein Grund dafür, dass das Land nach exzessiver Nutzung seiner Notenpresse 1908 vorübergehend aus der Lateinischen Münzunion, jener Quasivorläuferin der europäischen Währungsunion, die 1865 von Frankreich initiiert worden war, ausgeschlossen wurde. Zeitgenössische Ökonomen fällten ein vernichtendes Urteil. Dem US-Finanzexperten Henry Parker Willis galt Griechenland als „wirtschaftlich unseriös“ und „finanziell verrottet“.

Auch eine mentale Frage

Der von der Internationalen Finanzkommission überwachte Schuldendienst zog sich, unterbrochen von den beiden Weltkriegen und dem Bürgerkrieg 1946–49, über mehrere Jahrzehnte hin. Noch am Ende der Militärdiktatur 1974 zahlten die Griechen ihre Schulden aus dem 19. Jahrhundert ab.

Was lernen wir aus der Geschichte? Dass wir aus der Geschichte nichts gelernt haben! Das aktuelle Griechenland-Problem ist nicht nur eine ökonomische, sondern auch eine mentale Frage mit tiefen historischen Wurzeln.

Konträre Welten prallen aufeinander: auf der einen Seite Griechenland, stets resistent gegen Reformversuche von außen und mit einer eigenwilligen Schuldenmentalität, die sich fundamental von der deutschen oder österreichischen unterscheidet. Auf der anderen Seite EU und IWF mit oberflächlichen bürokratischen Werkzeugen, mit fehlender Sensibilität für griechische Gegebenheiten.

Und nicht zuletzt: Jene ausländischen Investoren und Spekulanten, die in wirtschaftlich guten Zeiten bereitwillig hohe Kredite vergeben, bei Anzeichen von Problemen ihr Kapital jedoch abrupt abziehen und dadurch Wirtschaftskrisen verstärken. Das Drehbuch dieser „griechischen Tragödie“ hätte sich zumindest erahnen lassen. . .

E-Mails an: debatte@diepresse.com

DER AUTOR



Mag. Dr. phil Walter M. Iber
(* 1979 in Graz) ist Historiker. Assistent am Institut für Wirtschafts-, Sozial- und Unternehmens-

geschichte der Universität Graz. Er ist auch wissenschaftlicher Mitarbeiter im OeNB-Forschungsprojekt „Fiskalpolitik und Staatsverschuldung in der sehr langen Frist am Beispiel Österreichs, 1811 bis 2012“. [ Privat ]

("Die Presse", Print-Ausgabe, 10.07.2015)

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