Leben mit der Atomvereinbarung mit dem Iran

Im Augenblick sollte niemand davon ausgehen, dass das in Wien geschlossene Nuklearabkommen die Iraner dazu bringen könnte, ihren Radikalismus zu mäßigen und ihre strategischen Ambitionen in der Region zu zügeln.

Es ist wahrscheinlich, dass nach 60 Tagen intensiver Debatten in Washington und vermutlich auch in Teheran der am 14.Juli in Wien vom Iran und den fünf ständigen Mitgliedern des UN-Sicherheitsrates plus Deutschland unterzeichnete „Gemeinsame umfassende Aktionsplan“ (JCPOA) in Kraft treten wird. Allerdings sollte niemand dieses Ergebnis mit der Lösung des Problems der iranischen atomaren Ambitionen oder dem Beitrag Teherans zu den anhaltenden Turbulenzen im Nahen Osten durcheinanderbringen. Im Gegenteil: Je nachdem, wie dieses Abkommen letztlich umgesetzt und durchgesetzt wird, könnte es die Situation verschlimmern.

Damit ist nicht gesagt, dass von der Wiener Vereinbarung kein Betrag zu erwarten wäre. Sie deckelt für das nächste Jahrzehnt die Anzahl und Beschaffenheit der Zentrifugen, die der Iran betreiben darf, und gestattet dem Land für die nächsten 15 Jahre nur den Besitz einer kleinen Menge schwach angereicherten Urans.

Unter dem Strich

Das Wiener Abkommen richtet zudem einen Inspektionsmechanismus ein, der laut dem amerikanischen Präsidenten, Barack Obama, Inspektionen „wo nötig und wenn nötig“ ermöglicht und der das Potenzial hat, die iranische Einhaltung dieser und anderer Zusagen zu überprüfen.

Unter dem Strich könnte das Abkommen den Zeitraum, den der Iran zur Herstellung einer oder mehrerer Nuklearwaffen brauchen würde, um mehrere Monate bis hin zu einem Jahr verlängern. Das macht es wahrscheinlicher, dass ein derartiges Bemühen rechtzeitig entdeckt werden könnte. Am attraktivsten an der Vereinbarung aber ist die Aussicht, dass sie den Iran für 15 Jahre von Nuklearwaffen fernhalten könnte.

Mit Sanktionen allein hätte sich dies nicht erreichen lassen. Der Einsatz militärischer Gewalt wiederum wäre mit beträchtlichen Risken verbunden gewesen – bei ungewissem Ausgang.

Andererseits (in der Diplomatie gibt es immer ein andererseits) gestattet das Abkommen dem Iran, viel mehr nuklearbezogene Kapazitäten aufrechtzuerhalten, als er brauchen würde, wenn er nur an ziviler Forschung und dem Nachweis einer symbolischen Fähigkeit zur Urananreicherung interessiert wäre. Das Abkommen hebt zudem viele Wirtschaftssanktionen gegenüber dem Iran auf, was die Fähigkeit des Regimes in Teheran steigern wird, gefährliche Stellvertreterorganisationen im gesamten Nahen Osten zu stärken, eine konfessionelle Regierung in Bagdad zu unterstützen und das Regime des syrischen Präsidenten, Bashar al-Assad, zu unterstützen.

Raketenfrage ausgeklammert

Zudem untersagt das Wiener Abkommen nicht sämtliche nuklearbezogene Forschung, und es schränkt auch die Arbeit an Forschung und Herstellung von Raketen nicht ein. Der Verkauf von ballistischen Raketen und Raketenteilen an den Iran wird nur für acht Jahre und der Verkauf konventioneller Waffen für lediglich fünf Jahre untersagt. Zudem besteht die Gefahr, dass der Iran Teile des Abkommens nicht einhält und verbotene Arbeiten durchführen wird.

Angesichts des bisherigen Verhaltens der Iraner stand dies verständlicherweise im Fokus eines Großteils der Sorgen und der Kritik in Bezug auf den Atomdeal. Worauf es nun ankommt, ist, dass Verstöße gegen die Wiener Vereinbarung sofort mit neuerlichen Sanktionen und gegebenenfalls mit militärischer Macht geahndet werden.

Viel weniger Aufmerksamkeit aber ist einem noch größeren Problem zuteil geworden: der Gefahr, die droht, wenn der Iran das Abkommen einhält. Selbst ohne Vertragsverstöße kann sich der Iran so positionieren, dass er bei Ablauf wichtiger Bestimmungen seine nuklearen Beschränkungen abschüttelt. An diesem Punkt gibt es dann wenig, was ihm Schranken auferlegen würde – außer dem Atomwaffensperrvertrag, einer freiwilligen Übereinkunft, die bei Nichteinhaltung keinerlei Strafen vorsieht.

Es ist wichtig, dass die USA – im Idealfall gemeinsam mit anderen Ländern – den Iran wissen lassen, dass Maßnahmen, um sich nach 15 Jahren in den Besitz von Atomwaffen zu bringen, nicht toleriert werden, auch wenn sie durch das Abkommen nicht ausdrücklich verboten sind.

Fehler nicht wiederholen

Beim ersten Anzeichen, dass der Iran sich auf eine nukleare Bewaffnung nach Ablauf der Wiener Vereinbarung vorbereitet, sollten wieder harte Sanktionen eingeführt werden; auch dies wird durch das Abkommen nicht ausgeschlossen.

Dem Iran sollte zudem zur Kenntnis gebracht werden, dass die USA und ihre Verbündeten einen militärischen Präventivschlag durchführen würden, wenn es den Anschein hat, dass Teheran versuchen sollte, die Welt vor vollendete Tatsachen zu stellen. Die Welt hat schon einmal einen Fehler gemacht, als sie es den Nordkoreanern gestattete, die Schwelle hin zu Nuklearwaffen zu überschreiten. Das aber sollte nicht noch einmal passieren.

In der Zwischenzeit müssen umfassende Anstrengungen unternommen werden, um die Sorgen der Nachbarländer des Iran zu mindern. Mehrere dieser Länder werden versucht sein, sich gegen eine in 15 Jahren potenziell erfolgende nukleare Bewaffnung des Iran abzusichern, indem sie eigene Nuklearwaffenprogramme verfolgen. Der Nahe Osten ist schon Albtraum genug ohne die von einer Anzahl potenzieller Nuklearmächte ausgehenden zusätzlichen Risken. Präsident Obamas Behauptung, das Abkommen habe „die Verbreitung von Nuklearwaffen in der Region gestoppt“, ist so gesehen im besten Falle verfrüht.

Kooperation ist möglich

Es wird außerdem unverzichtbar sein, das strategische Vertrauen zwischen den USA und Israel wiederherzustellen. Tatsächlich wird dies für Obamas Nachfolger eine hohe Priorität haben müssen. Zudem sollten die USA in angemessener Weise auf die Außenpolitik des Iran oder die Behandlung seiner eigenen Bevölkerung reagieren.

Nichts hiervon schließt eine punktuelle Zusammenarbeit mit dem Iran aus – sei es in Afghanistan, Syrien oder dem Irak –, wenn sich die Interessen überschneiden. Aber auch hier muss man realistisch sein. Niemand sollte von der Vorstellung ausgehen, dass das Nuklearabkommen mit dem Iran dazu führen könnte, seinen Radikalismus zu mäßigen und seine strategischen Ambitionen zu zügeln. Tatsächlich könnte das Aufkommen eines immer gefährlicheren – und keines gewandelten – Iran eine der großen Herausforderungen sein, vor der der Nahe Osten, wenn nicht die ganze Welt, in den kommenden Jahren steht.

Aus dem Englischen von Jan Doolan

Copyright: Project Syndicate, 2015

E-Mails an:debatte@diepresse.com

DER AUTOR



Richard N. Haass
(geb. 1951 in Brooklyn) war Direktor der Planungsabteilung im US-Außenamt und Mitarbeiter des seinerzeitigen Außenministers Colin Powell. Er hatte auch Posten im Pentagon und im Senat inne. Seit Juli 2003 ist er Präsident des Council on Foreign Relations. Verfasser zahlreicher Bücher, zuletzt: „Foreign Policy Begins at Home: The Case for Putting Americas House in Order“. [ Project Syndicate ]

("Die Presse", Print-Ausgabe, 21.07.2015)

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