Umgang mit Russland: Nächster Winter kommt

Was will der Westen mit seinen Sanktionen von Russland erreichen: Will er Russland bestrafen oder es nur erniedrigen? Will er Russland eines Besseren belehren oder es nur ermüden? Will er es führen oder nur lenken?

So viele hollywoodreife Handlungsstränge ziehen sich aktuell quer durch Europa. Etwa das Szenario eins: Die USA unterstützen verdeckt – ihre Volkswirtschaftler Krugman, Stiglitz und Sachs ganz offen – die Abenteuerlust der griechischen Regierung. Die EU wird dadurch so abgelenkt, dass sie für geraume Zeit nicht mehr dazu kommt, über die Zweckmäßigkeit der Russland-Sanktionen nachzudenken.

Am Höhepunkt dieser fiktionalen Affäre tritt die Regierung Tsipras in Athen zurück. Im Epilog sieht man den einen oder anderen griechischen Politiker, wie er als „Senior Statesman“ an der Fletcher School of Law and Diplomacy der Tufts University Medford, Massachusetts, zigtausende Dollar pro Vortrag kassiert, um den Zuhörern ans Herz zu legen, wie eine Staatsschuldenkrise am effizientesten zu bewältigen sei.

Eine abermalige Scheidung

Oder das Szenario zwei: Russland unterstützt, nicht einmal verdeckt, die Abenteuerlust der griechischen Regierung. Das destabilisiert zwar die EU, aber gleichzeitig verschafft es ihr eine blitzartige Erkenntnis: Es ist die asymmetrische Rationalität der US-Außenpolitik, die sie in diese Lage gebracht hat!

Am Höhepunkt dieses Szenarios tritt die griechische Regierung zurück. Im Epilog sieht man den einen oder den anderen an der Fletcher School der Tufts University (wer läuft denn schon, wie etwa Edward Snowden, in die falsche Richtung?) Dort halten sie gut bezahlte Vorträge darüber, wieso der Kalte Krieg bis jetzt der sicherste, weitaus angenehmste Koexistenzmodus zwischen den USA und Russland gewesen ist. Seine Rückkehr haben wir uns zwar etwas kosten lassen, aber die Stille, die Ruhe danach, der klare Blick auf die militärisch abgesicherten Grenzen, haben keinen Preis.

Den dramaturgischen Linien fehlt es noch immer an Volumen und Dichte, aber das Potenzial ist unübersehbar. Der Westen und Russland lassen sich nochmals scheiden: Ist dies nicht genau das, was die Russen letztendlich auch wollen – in Ruhe gelassen zu werden? Streitet man nur noch um die Modalitäten dieses In-Ruhe-Lassens? Legt sich jenes, in der Kunst und Kultur nostalgische und produktive, im Alltag nur brutale Raster schon wieder über den ganzen Kontinent? Wenn ja, wiegt Posse schwerer als Tragik.

Jetzt, im zweiten Jahr der Russland-Sanktionen, ist es an der Zeit, zu fragen: Was will der rational orientierte Westen vom irrationalen Russland? Wir müssen etwas wollen, es liegt nicht in unserer Natur, spontan loszulegen. Unser kulturelles, religiöses und politisches Erbe zwingt uns dazu, unsere Handlungen wie Kinder zu benennen, sie wachsen und gedeihen zu lassen, mit Originalentwürfen zu vergleichen. Sind sie zu dem geworden, wozu wir sie in die Welt gesetzt haben?

Abgesehen von einigen – zugegeben nicht wenigen – historischen Betriebsunfällen, bleiben Rationalität, Planung, Optimierbarkeit die bestimmenden Merkmale des Westens. Sich gegen diese habitualisierte Vorgehensweise zu sträuben, hilft nicht, sie ist eine Art eingeschriebene kulturelle Genetik. Was wollen wir also von Russland – es bestrafen, oder nur erniedrigen? Es eines Besseren belehren oder nur ermüden? Es führen oder nur lenken?

Nehmen wir an, der Westen möchte Russland bestrafen: Rein technisch kann er das nicht, ohne sich selbst zu bestrafen. Aber das ist ein alter Hut, nur abgehärtete „Putin-Versteher“ wagen sich da hinaus, ohne gleich mit der Unmündigkeitskeule medienwirksam neutralisiert zu werden. Wenn schon, entsteht dieser Text eher aus dem Reflex eines „Putin-Sophisten“.

Moralische Bezwingung

Oder das Sanktionsziel ist es, Russland zu erniedrigen, moralisch zu bezwingen. Da gibt es einen großen Haken: Russland sollte selbst, aus freien Stücken zu dem Punkt gelangen, sein Vorgehen in der Ukraine als unmoralisch zu bewerten. Vielleicht wäre ratsam, auf dem Weg dorthin zuerst die Kiewer Behörden dazu zu bringen, ihr Vorgehen in so einigen Dingen in der Terminologie des Unmoralischen aufzufassen?

Zwang ist nicht möglich

Angenommen, der Westen will Russland nur belehren. Nun, damit kommen wir auch nicht viel weiter, weil Russland auch eine eingeschriebene kulturelle Genetik hat. Und die verträgt sich mehr schlecht als recht mit der westlichen. Deshalb kann der Westen Russland nur ermüden. Aber da ist wieder ein Haken: Das Land ist groß genug, um uns, um ganz Europa mit in die Tiefe seines Untergangs zu reißen.

Wenn ihnen das nicht nach dem Prinzip der verbundenen Gefäße gelingt, dann werden die Russen schon dafür sorgen, dass es woanders in der Welt lichterloh brennt. Viel müssen sie ja nicht tun, ihre sarkastische Interpretation aller westlichen, vor allem aller US-Fehlschläge genügt.

Nehmen wir an, der Westen wolle Russland führen. Dies ist ein guter Ansatz, ein durchaus lobenswerter. Aber wohin führen?

Der Westen neigt dazu, sein Wertesystem als universelles Paket zu betrachten, das man nach dem Diffusionismus-Prinzip in die Welt abschicken kann, um danach in den Genuss der Freiheitsdividende zu kommen. Manchmal gelingt es, manchmal bekommen wir Zombievarianten der liberalen Demokratie als Ergebnis. Die Pointe ist: Wenn die Eliten und das Volk Russlands sich dem westlichen Diffusionismus unbegreiflicherweise doch widersetzen, können wir sie dazu nicht zwingen.

Auf den Westen ausgerichtet

Oder aber der Westen will Russland nicht so sehr führen, sondern eher nur lenken, so wie ein Auto eben. Interessanterweise hat diese Taktik in der Geschichte relativ gut funktioniert. Noch wichtiger, sie könnte wieder funktionieren.

Trotz seiner grundsätzlichen Innenschau in Kultur und Politik bleibt Russland nämlich fasziniert vom Westen und vielem, wofür er steht. Die Umorientierung Russlands nach Asien hat keine große Zukunft – aus einem Grund: Russland und diese Völker bleiben einander fremd. Wirtschaft und Politik können nicht kitten, wo Gesellschaften auseinanderdriften. Die gefühlsmäßige Orientierung Russlands geht Richtung Westen.

Die sowjetische Besetzung Ost- und Mitteleuropas war ein Ausdruck der Liebe? Ja, genau so sieht die Liebe von Eroberern aus! Sie erobern das, was sie begehren. In dieser Hinsicht sind die Russen bei Weitem kein historischer Einzelfall. Der einzige universelle Zugang, den der Westen zu Russland hat, läuft über Russlands Faszination für den Westen.

Der nächste Winter kommt bestimmt, und jeder zählt doppelt. Wenn das Minsk-Abkommen nicht zur Gänze implementiert wird, bleiben die Sanktionen aufrecht. Diese Logik ist flach wie die Flat-tax: Das Einzige, was die Kiewer Behörden jetzt zu tun hätten, wäre dafür zu sorgen, dass das Abkommen nicht zur Gänze implementiert wird. Man kann sich das erlauben, weil, na ja... Der Westen wird's schon richten.

E-Mails an: debatte@diepresse.com

DIE AUTORIN



Vesna Knezevic
(* 1956 in Prishtina) studierte Politikwissenschaften in Belgrad und Wien; MA Soziologie, Universität Wien. Erste Anstellung bei Radio Belgrad. Ab 1985 Korrespondentin aus Zagreb für Radio und TV Belgrad, 1991 im Zuge von Mediensäuberungen unter Milošević fristlos entlassen, 1993 Übersiedlung nach Wien. Dzt. Korrespondentin für das serbische Fernsehen (RTS). [ Privat]

("Die Presse", Print-Ausgabe, 22.07.2015)

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