Weltwirtschaft: Warten auf den nächsten Krisenschub

Gastkommentar. Weltweit fallen die Aktienwerte und mit ihnen auch die Rohstoffpreise. Anleihekurse und Immobilienpreise werden folgen.

Die Realwirtschaft hat sich vom Schock der Finanzkrise 2008 bis heute nicht erholt, doch die Aktienkurse begannen schon im März 2009 wieder zu boomen und stiegen in den Industrieländern bis vor Kurzem auf das Dreifache. In der Volksrepublik China setzte der Boom erst Mitte 2014 ein, dafür aber in historisch einmaliger Rasanz. Nun fallen die Aktienwerte weltweit und mit ihnen die Rohstoffpreise – Anleihekurse und Immobilienpreise werden folgen. Ein neuer Krisenschub bahnt sich an.

Im Nachhinein wird emsig rationalisiert: Als die Aktienkurse nach 2000 um bis zu 70 Prozent einbrachen, war halt die „Internet-Bubble“ geplatzt; als sich dies 2008 wiederholte, hatten sich halt ein paar Banken verspekuliert; als sich die Nahrungsmittelpreise vor der Finanzkrise verdreifachten, hatten die Inder halt mehr Reis gegessen; als sich der Erdölpreis zur gleichen Zeit verfünffachte, hat halt der Verbrauch der Chinesen zugenommen. Kurz: Die Finanzmärkte spüren den „wahren“ Gleichgewichtspreis auf, der von den „Fundamentalfaktoren“ bestimmt wird („price discovery process“), Spekulation ist daher ein Segen für die Realwirtschaft – das hatte Nobelpreisträger Milton Friedman doch schon 1953 bewiesen.

Herdeneffekt unter Ökonomen

Die von Kollegen seiner „Schule von Chicago“ verfeinerte „Theorie effizienter Finanzmärkte“ bildete die theoretische Grundlage für deren Entfesselung seit den 1970er-Jahren. Sie ist eingebettet in ein umfassendes Weltbild: Mit „unsichtbarer Hand“ lenkt „der Markt“ ökonomische Prozesse zur bestmöglichen Lösung, die Politik soll sich aus der Wirtschaft heraushalten, der Sozialstaat mindert Eigenverantwortung und Leistungsanreiz.

Mehr als eine Generation von Ökonomen wurde in dieser Weltanschauung ausgebildet, langsam breitete sich der „Common Sense“ in Wissenschaft, Medien und Politik aus, ein gewaltiger Herdeneffekt. Der Begriff der Freiheit bildet den Schlussstein des Gedankengebäudes, wobei Freiheit negativ begriffen wird als Freiheit von (staatlichem) Zwang (und nicht positiv als Entfaltungsmöglichkeit). Sein Fundament besteht aus folgenden Annahmen: Der Mensch ist nur ein Individuum (nicht auch ein soziales Wesen), nur Konkurrenz, nicht auch Kooperation soll ökonomische Prozesse steuern, nur rationales Kalkül, nicht auch Emotion prägt wirtschaftliches Handeln.

Allerdings: Je größer die negative Freiheit (von Sozialstaat etc.), umso kleiner wurde die positive Freiheit (man vergleiche die Lebenschancen junger Menschen heute mit jenen vor 40 Jahren); je mehr von Selbstbestimmung gesprochen wurde, desto größer wurde die Fremdbestimmung; je mehr sich die Politik an der neoliberalen Navigationskarte orientierte, umso schlechter ging es der Realwirtschaft, also Arbeitnehmern und Unternehmern.

Diesen Widerspruch können Mainstream-Ökonomen nicht verstehen, ja nicht einmal wahrnehmen. Denn innerhalb eines Denksystems kann man das Denksystem selbst nicht als Krisenursache erkennen. Dies wird am Beispiel der Preisbildung auf den Finanzmärkten besonders klar.

Bullen- und Bärenmärkte

Für Gleichgewichtsökonomen ist undenkbar, was für Trader in der Praxis eine Selbstverständlichkeit darstellt: Aktien- und Anleihekurse, Rohstoffpreise und Wechselkurse schwanken in einer Abfolge von Bullen- und Bärenmärkten.

Wenn aber die „freiesten Märkte“ manisch-depressiv veranlagt wären und daher systematisch falsche Preise setzten, dann wäre die jahrzehntelange Restauration des alten Laissez-fair-Bildes für die Katz gewesen, dann müssten sich tausende Professoren mit der Frage auseinandersetzen, ob sie nicht jahrzehntelang Unsinn unterrichtet haben, dann wäre das Regelwerk der EU (Fiskalpakt, Statut der EZB etc.) obsolet, Nobelpreise müssten nach Stockholm retourniert werden... Alles nicht auszudenken! Da kann nur der wirkungsmächtigste Wirtschaftstheoretiker Deutschlands helfen, Professor Palmström: Weil nicht sein kann, was nicht sein darf!

Lernresistente Eliten

Der Lernwiderstand der Eliten gegenüber der Realität manisch-depressiver Preisschwankungen auf den „freiesten“ Märkten wurde nach der Finanzkrise 2008 manifest. Bis heute bleibt ungesehen, dass ihre systemische Hauptursache im Zusammenfallen von drei Bärenmärkten bestand (wie zuletzt 1929), also in der gleichzeitigen Entwertung von Aktien-, Immobilien- und Rohstoffvermögen (ermöglicht durch den vorangegangenen Dreifach-Bullenmarkt). Vielmehr wurden „gierige Banker und Hedge Funds Manager“ als Schuldige benannt.

Zwar stärkte der im März 2009 einsetzende Aktienboom die beiden Freud'schen Abwehrmechanismen Verleugnung und Verdrängung („Sag' ma, es war nix“), doch ein vorbewusstes Schuldgefühl bedrückte die Eliten, solange das Treiben auf den Finanzmärkten als Hauptursache der Krise galt: Sie selbst hatten ja deren Liberalisierung vorangetrieben.

Es brauchte einen Schuldigen, der ins neoliberale Weltbild passte: Nicht Marktprozesse, sondern die Politiker müssen versagt haben, nicht der Markt, sondern der Staat muss in desaströser Verfassung sein, nicht Sparen, sondern das Über-seine-Verhältnisse-Leben muss in die Krise geführt haben. Im Oktober 2009 war der ideale Schuldige gefunden: Die griechische Regierung gestand, falsche Budgetzahlen geliefert zu haben.

Kampagne gegen die Griechen

Natürlich konnte man auf der rationalen Ebene das kleine Land nicht für die Finanzkrise verantwortlich machen, doch auf der emotionalen Ebene wurde reagiert, als ob es so wäre:

Noch nie seit den 1930er-Jahren war in den „volksdümmlichen“ Medien eine Kampagne gegen ein Volk geführt worden. „Die Pleite-Griechen“ oder „die Schummel-Griechen“ sind seit Jahren als Umgangssprache akzeptiert, jedenfalls von der Politik nicht geächtet.

So formulierte im Juli 2015 der stellvertretende CDU-Vorsitzende Thomas Strobl: „Der Grieche hat genug genervt“ – eine sprachliche Ungeheuerlichkeit in einem Land, in dem früher „der Jude“ genervt hat. Selbst Angela Merkel bediente in Wahlkämpfen das Vorurteil von den „faulen Griechen“ (ihre Jahresarbeitszeit liegt laut OECD um 51Prozent über jener der Deutschen).

Der nächste Sündenbock?

Der Morgenthau-Plan zur Bestrafung des deutschen Volkes wurde verworfen, Kollektivschuld kann es nicht geben, auch nicht für die Nazi-Verbrechen. Doch das griechische Volk wurde kollektiv bestraft, zum Beispiel durch Entzug der Gesundheitsversorgung.

Jeder Sündenbock kann nur einmal verwendet werden, danach ist er ja hin. Wer kommt diesmal dran, wenn auf einen Aktiencrash wieder eine Rezession folgt? Oder könnten Ökonomen aus der Krise lernen, konkretes, problemorientiertes und vielleicht sogar anteilnehmendes Denken höher zu stellen als das Designen von Luftschlössern in höherem Interesse?

E-Mails an: debatte@diepresse.com

DER AUTOR




Stephan Schulmeister
(* 1947) studierte Rechts- und Wirtschaftswissenschaften an der Universität Wien. Er war von 1972 bis 2012 wissenschaftlicher Mitarbeiter im österreichischen Wirtschaftsforschungsinstitut (Wifo). Forschungsaufenthalte am Bologna Center der John Hopkins University, an der New York University und am Wissenschaftszentrum Berlin.
[ Clemens Fabry ]

("Die Presse", Print-Ausgabe, 08.09.2015)

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