Flüchtlingspolitik: Warum nicht 1993er-Modell?

Auf die jetzige Migrationswelle aus dem Nahen Osten reagieren die betroffenen EU-Staaten bisher weitgehend passiv. Dabei gab es vor mehr als 20 Jahren eine vergleichbare Situation, die damals gut gemeistert wurde.

Seit Monaten reagiert EU-Europa auf die Flucht- und Wanderbewegung aus Syrien auf genau eine Weise: Die Verantwortlichen zelebrieren ihr eigenes Versagen, gleichermaßen auf Staaten- wie auf Unionsebene.

Indessen hat sich eine klare Hierarchie von Ziel- und Transitländern herauskristallisiert, und Schlepper machen Einreisen gleichsam à la carte möglich. Entscheidendes Kriterium bei der Auswahl der finalen Destination sind die wirtschaftliche Prosperität und die – zumeist im Voraus bekannte – Mittelausstattung des Sozialsystems. In der Bundesrepublik Deutschland rechnen die Behörden demgemäß mit bis zu einer Million Flüchtlingsankünften in diesem Jahr, in Österreich mit zumindest 80.000.

Kein proaktiver Ansatz

Die betroffenen Staaten, aber auch die EU-Institutionen, stehen dieser Entwicklung weitgehend hilflos gegenüber. Wenn Handlungen gesetzt wurden, waren sie im Kern reaktiv – ein proaktiver und vor allem umfassender Ansatz ist nach wie vor nicht zu erkennen. Die EU-Kommission machte außer Aufteilung nach Quoten und „Wiederansiedlung“ bisher keine nennenswerten Vorschläge. Die Transitländer wiederum beschränkten sich – mit Ausnahme Ungarns – ebenfalls auf eine passive Rolle, indem sie die Flüchtlinge und Einwanderer praktisch unkontrolliert weiterreichten.

In den Zielländern aber erklärte die Politik das dramatische Geschehen primär zu einer Verwaltungsfrage: Wie können die Flüchtlinge aufgenommen und wohin im Land verteilt werden? Dass sich dabei ausreichend Gelegenheit für parteipolitisch motivierte Untergriffe bietet, liegt in der Natur der Materie. Dass solche Untergriffe auch auf innerparteilicher Ebene Freude bereiten können, bewies der österreichische Vizekanzler gegenüber seiner Innenministerin.

Um in Österreich zu bleiben: Nachdem Regierungspolitik und Medien das Flucht- und Wanderungsthema auf die reine Aufnahmeproblematik reduziert hatten, blieben alle weiterreichenden Überlegungen ausgespart, wenn nicht tabuisiert. Zu betrachten war nur der kurzfristig humanitäre Gesichtspunkt. Ob das Asylrecht missbraucht und als Vorwand für Masseneinreise benutzt wurde, schien uninteressant.

Auch Fragen, was die massive Einwanderung Zehntausender, zumeist schlecht ausgebildeter Menschen, zu 80 Prozent junge Männer, für das Sozialsystem bedeutet, kamen kaum auf. Dass die Ankommenden zudem mehrheitlich einen kulturellen Hintergrund mitbringen, der nur als antiaufklärerisch zu bezeichnen ist, war gleichermaßen nicht Gegenstand der Betrachtung. Kurz, man ersparte sich selig das Nachdenken über mögliche Negativfolgen für die innere Sicherheit und den gesellschaftlichen Zusammenhalt.

Bosnien-Krieg als Blaupause

Was ebenfalls völlig im Hintergrund blieb, war der eigentliche Kernpunkt des Problems. Anstatt sich in der Frage der Flüchtlingsaufnahme zu verzetteln, wären auf EU- und Staatenebene Maßnahmen zu treffen, die den Massenzuzug bremsen, steuern und schließlich beenden. Dafür bedarf es naturgemäß einer gemeinsamen Strategie sowie der Fähigkeiten, sie auch umzusetzen. Diese sind im Moment kaum auszunehmen – was umso mehr verwundert, als Europa schon vor mehr als 20 Jahren eine überaus sinnvolle Vorgehensweise in einer vergleichbaren Situation entwickelt hat.

Zur Erinnerung: Bosnien und Herzegowina (BiH) hatte 1992 knapp 4,4 Millionen Einwohner. Der Bürgerkrieg trieb bis Ende 1995 rund 2,3 Millionen in die Flucht. Etwa 1,1 Millionen verblieben als Binnenvertriebene im Land, rund 560.000 fanden in den Nachbarstaaten Zuflucht und etwa 640.000 gelangten in den EU/EFTA-Raum. Ein Spezifikum des Konflikts bestand darin, dass „ethnische Säuberung“ ein strategisches Ziel und nicht „nur“ Nebeneffekt der Kampfhandlungen war. Entsprechend schnell gingen die durch Mord und Terror beschleunigten Vertreibungen vor sich.

Gemeinsame EU/EFTA-Strategie

So verloren allein in den ersten sieben Kriegsmonaten fast 900.000 Menschen Haus und Heim. Bis November 1993 hatte Deutschland 360.000 Menschen aus BiH aufgenommen, Österreich und Schweden jeweils über 70.000. Nach einigen Anlaufschwierigkeiten verständigten sich die EU/Efta-Staaten im Lauf des Jahres 1993 auf eine gemeinsame Vorgehensweise.
Erstens: Die Vertriebenen wurden hinfort primär in der Konfliktregion versorgt. In BiH wurden UN-Schutzzonen eingerichtet und die humanitäre Hilfe massiv aufgestockt. Zugleich erhielten Slowenien und Kroatien massive finanzielle und materielle Unterstützung. Die Kosten der Versorgung in der Region machten nur rund 15Prozent von dem aus, was sie im EU/EFTA-Raum betragen hätten.
Zweitens: Die EU und die Staatengemeinschaft insgesamt verstärkten die diplomatischen und militärischen Anstrengungen, den Konflikt zu beenden. Trotz haarsträubender Fehlleistungen, man denke an das Schicksal der Schutzzone Srebrenica, wurde bis Ende 1995 ein Friedensabkommen erzwungen.
Drittens: Nur noch jene Flüchtlinge durften in die EU/Efta-Staaten einreisen, bei denen spezifische Schutzwürdigkeit vorlag. Für sie und alle bereits Eingereisten galt primär der Status des zeitlich begrenzten Schutzes. Nach Ende des Konflikts bzw. mit dem Wegfallen der Gefahr hatten diese Menschen in ihr Herkunftsland zurückzukehren. Damit war gleichermaßen der Schutz aller Aufgenommenen gewährleistet, zugleich aber ein Signal gesetzt, dass Kriegsflüchtlinge nicht automatisch Asyl nach der Flüchtlingskonvention erwarten können.

Der Schlüssel zum Erfolg

Visapflicht, Grenzkontrollen und die klare Ansage, dass ein „Kommen, um zu bleiben“ nicht geduldet wird, erwiesen sich als zielführend. In Kombination mit den humanitären und politisch-militärischen Maßnahmen in der Krisenregion wurde erreicht, dass die Zahl der Kriegsflüchtlinge in EU/EFTA-Staaten bis Kriegsende nur noch um zehn Prozent anstieg.

Nach 1995 führten Deutschland und die Schweiz 200.000 bzw. 10.000 bosnische Flüchtlinge in ihr Herkunftsland zurück, weitere 100.000 bzw. 10.000 folgten ihnen aus freien Stücken. Die anderen Aufnahmeländer verzichteten auf die forcierte Ausreise der Kriegsflüchtlinge.

Zweifellos sind heute die Umstände in mancher Hinsicht andere. Dennoch lässt sich zum Flüchtlingsstrom aus Syrien festhalten: Der Schlüssel zum Erfolg wird auch hier die sinnvolle Kombination proaktiver und reaktiver Maßnahmen sein.

Als wesentliche Elemente der Strategie können die Versorgung in der Krisenregion, die Aufnahme im geografischen Vorfeld der EU, ein temporärer Aufenthaltsstatus in der EU, die Rückführung an sichere Aufenthaltsorte außerhalb der EU, restriktive Einreisebestimmungen, die Zerschlagung des Schlepperwesens und mittel- bis langfristig die Beendigung des syrischen Bürgerkriegs gelten.

E-Mails an: debatte@diepresse.com

DER AUTOR



Mag. Christoph H. Benedikter
(*1966) ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Ludwig-Boltzmann-Institut für Kriegsfolgen-Forschung, Graz – Wien – Raabs sowie freier Ausstellungskurator. Die in dem Text angeführten Zahlen entstammen seiner Studie „Flucht und Vertreibung als ständige Faktoren – sicherheitspolitische Konsequenzen“. [ Privat ]

("Die Presse", Print-Ausgabe, 18.09.2015)

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