Österreich ist mit seiner Neutralität gut gefahren

Eine dringende Warnung aus Berlin vor Aufrufen, das bündnisfreie Österreich solle endlich dem Nordatlantikpakt beitreten.

In dieser Zeitung, die für mich maßgebende Österreichs, daher ich sie also in Berlin lese, fand ich am 21.März zum ersten Mal den Hinweis, dass neuerdings Maßgebende innerhalb der westlichen Militärallianz, aber sogar auch in Wien, energisch fordern, das bündnisfreie Österreich solle endlich der Nato beitreten.

Jemand nannte hier in dieser Zeitung Österreichs Neutralität „eher unsolidarisch und halbseiden“. Da ich nicht weiß, was „halbseiden“ heißt, könnte ich auch die „Begründungen“ eines Autors, der so nebulös redet, nicht nachvollziehen – lieferte er überhaupt einen Grund für seine Ansicht, Neutralität eines kleinen Staats zwischen zwei erdrückenden Großmächten sei nicht klug, sondern „halbseiden“.

Meine erste Frage: Ist denn Österreich, seit nunmehr 60 Jahren bündnisfrei, nicht sehr gut damit gefahren? Hat seine Neutralität seinen wirtschaftlichen Wohlstand und seine militärische Sicherheit nicht nur gefördert? Ich denke, diese zwei Aspekte müsste zuerst sondieren, wer behauptet, Neutralität sei halbseiden.

Jetzt die Frage: Was würde umgekehrt Österreich davon haben, wenn es sich plötzlich nach Jahrzehnten, in denen niemand seine Souveränität bedroht hat, von der Nato einverleiben ließe? Brächte das die kleine Republik nicht sogar in Lebensgefahr?

Gefährdetes Deutschland

Wie ganz eindeutig jetzt Deutschlands Existenz auf das Höchste gefährdet wird, seit das Pentagon zuletzt angekündigt hat, bis 2019 40amerikanische Langstreckenraketen mit Atomsprengköpfen hier zu installieren! Gegen wen eigentlich sollen diese Raketen gerichtet sein, wenn nicht gegen die Russen?

Hier ist an Nikita Chruschtschows denkwürdigen Satz zu erinnern, der als ein Vorgänger Wladimir Putins ehrlich angedroht hat: „Am ersten Tag des Dritten Weltkriegs verbrennt die Bundesrepublik.“

Sollte Österreich nicht dasselbe widerfahren, wenn seine Regierung mit der gleichen Fahrlässigkeit, ja Wurschtigkeit wie in Berlin die Regierung Merkel wortlos zuschaute, wenn von Jenseits des Ozeans, wo ein Krieg in Europa gar nicht zu einer Gefahr werden kann, das Land mit Raketen vollgestellt wird, die den Kreml geradezu zwingen, seine erste „atomare Antwort“ gegen dieses Territorium zu richten?

So hat denn auch Herrn Putins schroffe Antwort keine 48 Stunden auf sich warten lassen: Er setze jetzt seine „Atomstreitmacht in höchste Alarmbereitschaft“. Meines Wissens das erste Mal seit Hiroshima, dass ein Staatsoberhaupt expressis verbis mit dem Einsatz von Atomwaffen droht, also seit 70 Jahren!

Vergessen wir doch in Europa nicht – aber niemals bisher in der BRD-Zeitung erwähnt: Die Amerikaner sind schon deshalb die gefährlichste aller Militärmächte, weil die einzige, die seit über 160Jahren keinen Schuss auf ihrem eigenen Kontinent gehört hat? Also seit fünf Generationen nicht.

Meines Wissens zum ersten Mal in der Weltgeschichte, dass einer Großmacht dieses Glück zuteil wurde. So bleibt auch hier die Marx-Maxime eine der gültigsten – für jede Epoche, zutreffend auf Individuen wie auf Völker: „Unser gesellschaftliches Sein beherrscht unser Bewusstsein.“

Was hier heißt, wenn ein Volk nicht einmal mehr seit Ururgroßväter-Zeiten Krieg auf seinem Kontinent erlebt hat, kann es sich dessen Schrecknisse selbst dann nicht vorstellen, wenn vor urdenklichen Zeiten einer aus der eigenen Familie auf dem Schlachtfeld geblieben ist... Zu ergänzen also ist Marx: Auch unser geografischer Standort bestimmt unser Bewusstsein.

Höchste Existenzbedrohung

Beispiel: Wer in Spanien wohnt, kann leichten Herzens, weil völlig unbesorgt, wie einst sein „El Caudillo“ Franco dem Hitler eine Truppe Freiwilliger für seinen Überfall auf die Sowjetunion zur Verfügung stellen.

Aber für Österreich ebenso wie für Deutschland – als engste Nachbarn des russischen Riesenreichs – ist mit höchster Existenzbedrohung verbunden, wenn sie sich, nach Jahrzehnten erfolgreicher Friedensbeziehungen zu Moskau, aus Washington – wo man auch einen Dritten Weltkrieg höchstens vom Hörensagen her kennenlernen wird, ebenso wie die zwei vorigen Weltkriege – einreden lassen, gehörten sie nicht zur Nato, dann stehe ihre Zukunft auf dem Spiel. Wodurch denn?

Wahr ist: Für diese Befürchtung gibt es nicht den Anhauch einer Begründung – es sei denn, und dafür sprechen tausend Fakten, die USA setzen gegen alle Vernunft ihr Vorhaben durch, gegen Russland zu marschieren. Die Welt kennt ihren Vorwand: Ukraine und die Krim seien von Moskau „zu befreien“!

Altbundeskanzler Helmut Schmidt – und keineswegs nur Schmidt allein – haben aber daran erinnert: „Ukraine und Krim waren niemals selbstständige Staatswesen.“

Wozu gibt es die Nato noch?

Abgesehen davon, hat der schlaue Putin durch eine Volksbefragung auf der Krim öffentlich getestet, dass die Krimrussen in ganz großer Mehrheit bei Moskau bleiben wollen. Die Standardantwort der deprimierend einstimmigen Westpresse, in Russland würden doch alle Wahlen gefälscht, ist ja zweifellos teilweise wahr. Doch so maßstablos kann keine Fälschung sein zu behaupten, wenn es offiziell geheißen hat, über 90 Prozent seien für Russland – dass dann weniger als die Hälfte für Putin gestimmt habe...

Schlussfrage: Gab es seit 1955, als die Sowjetunion die Österreicher sowohl von ihrer Besatzungsmacht wie von Kriegsreparationen befreit hat, eine einzige Stunde, da es die Russen als Bedrohung empfinden musste?

Warum also sollte es sich jetzt von einem Bündnis-„Partner“ einverleiben lassen, der Nato, an deren Existenz längst schon sowieso das Fragezeichen hängt: Wozu gibt es sie überhaupt noch?

Denn immerhin wurde ihretwegen der Warschauer Pakt gegründet, der ihr also eine Berechtigung gab. Aber dieser ist ja nun seit Jahrzehnten an seiner Überflüssigkeit verendet. Während die Vereinigten Staaten ihren Rüstungsetat auf 51 Prozent gesteigert haben – was noch niemals in der Weltgeschichte, außer natürlich während des Kriegs, in einer Nation vorgekommen ist. Ja, sogar während seiner drei Kriege – interessanter Vergleich übrigens – hat Bismarck nie mehr als 25 Prozent des Etats in die Armee investiert.

Alle Kriege ausgelagert

Doch in den USA, sprich bei den tüchtigsten Kapitalisten, vor denen man je Angst haben musste, weil sie – schon gesagt – alle ihre Kriege weitab übers Meer in fremde Kontinente ausgelagert haben, wird „dank“ ihrer Rüstungsindustrie, die das Pentagon beherrscht, statt umgekehrt, gar nicht mehr gefragt,welchen Grund ihre Überrüstung haben könnte. Einen geschäftlichen natürlich – deshalb nie hinterfragt.

DER AUTOR

E-Mails an:debatte@diepresse.com

Rolf Hochhuth
(*1931 in Eschwege) machte die Buchdruckerlehre und arbeitete als Verlagslektor. Seit 1963 freier Autor. Sein erstes Theaterstück „Der Stellvertreter. Ein christliches Trauerspiel“ wurde zum Welterfolg. Schwerpunkt seines Schaffens war immer die Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus. [ EPA ]

("Die Presse", Print-Ausgabe, 28.09.2015)

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