Das Glaubensbekenntnis der neuen Humanisten

Politik und Medien predigen gerade die unbegrenzte Zuwanderung in Europa und verkünden eine neue Erbsündenlehre.

Den österreichischen, deutschen und vielen anderen maßgeblichen Politikern und Politikerinnen der Europäischen Union scheint in der gegenwärtigen Flüchtlingskrise nichts wichtiger zu sein, als fünf Mal täglich das neue säkulare Menschenrechts- und Humanitätsglaubensbekenntnis herunterzubeten. Gleichzeitig werden der Bevölkerung Dogmen wie „Mauern und Zäune sind keine Lösung“, „Menschenrechte gelten für alle“ oder „Bei der Aufnahme der Schutzsuchendenkann es keine Obergrenze geben“ indoktriniert.

Beim (Nach-)beten des neuen Glaubensbekenntnisses tun sich die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel und ihr, seit dem 5. September 2015 erster und treuester Assistent Werner Faymann,besonders hervor. Mit diesem Duett, das eine neue „dogmatische Theologie“ kreiert hat, tritt der EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Junker in einen regelrechten Wettbewerb um den Titel „Europäischer Superstar der Humanität und politischen Korrektheit“ ein. Diese vor der ganzen Welt zur Schau getragene Humanität übertrifft bei Weitem jene der klassischen Pharisäer in Israel zu Jesu Zeiten.

Savonarolas Nachfolger

Übersetzt in die sakrale Sprache des Mittelalters und der Frühen Neuzeit würden die täglich heruntergebeteten frommen humanitären Phrasen Merkels, Faymanns, Junkers und ihrer Anhänger unter den europäischen Politikern, Journalisten, Medienstars und Vertretern diverser NGOs etwa so lauten:

„Wir werden jetzt von Gott völlig zurecht für unsere und unserer Väter schwere Sünden – sprich: die jahrhundertelange Unterdrückung und Ausbeutung der Länder und Völker Afrikas, Asiens und anderer Kontinente – gezüchtigt. Wenn wir Gottes Gebote einhalten (nach aktueller säkularer Sprachregelung: Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechte hochhalten und europäische Solidarität praktizieren), wird er sich unser erbarmen und Flüchtlinge zu unserem Segen werden lassen. Unser Herr, der einst mit zwei Fischen und fünf Broten 5000 hungrige Männer (ohne Frauen und Kinder) gesättigt hat (und es blieb nach diesem Wundermahl bekanntlich noch viel zum Verteilen übrig, vgl. Mt. 15,14–21), kann auch im heutigen, reichen Europa eine nach oben unbegrenzte Zahl von ,Schutzsuchenden‘ aus aller Welt glücklich machen und uns die Kraft geben, sie in unsere Gesellschaft zu integrieren.

Mit Gottes Hilfe und einem festen Glauben schaffen wir das! Wir müssen allerdings radikal umkehren und Buße tun. Und selbst, wenn wir gemeinsam mit den Schutzsuchenden untergehen, müssen wir die Gebote einhalten“, so die Kleingläubigen.

Tagtäglich und in einer längst säkularisierten Sprache verkünden uns das die heutigen Nachfolger Girolamo Savonarolas und anderer Höllenprediger des Mittelalters und der Frühen Neuzeit, wobei diese, anders als ihre Vorgänger, nicht oder nur selten von einer Kirchenkanzel herunterdonnern. Ihre Stimmen erschallen aus den Redaktionen der meisten Zeitungen und öffentlich-rechtlichen wie auch der privaten Rundfunk- und Fernsehanstalten.

Sie deuten die Flüchtlingsströme in Europa ausschließlich als Folge „unserer Erbsünde“ gegen die Völker anderer Kontinente, die nur durch die (derzeit nicht existierende) europäische Solidarität gemildert werden könnten. Es reicht, irgendeine, dem neuen humanitären Zeitgeist halbwegs verpflichte Zeitung aufzuschlagen, um sogleich von der neuen Erbsündenlehre und den daraus erwachsenden Dogmen in Form von „modernen“, mittlerweile reichlich stereotypen Höllenpredigten förmlich überschüttetzu werden.

Meinen diese Prediger wirklich allen Ernstes, dass das Flüchtlingsproblem, nach der „großartigen humanitären Geste“ der mächtigsten Frau Europas und unter Beibehaltung der daraus folgenden deutschen „Willkommenskultur“, durch eine, wie auch immer geartete, europäische Solidarität gelöst werden kann?

Festhalten an Dogmen

Bundeskanzlerin Angela Merkel hat (gemeinsam mit Werner Faymann) am 5. September selbstverständlich nichtalle „Schutzbedürftigen“ dieser Welt ausdrücklich in die Bundesrepublik Deutschland eingeladen. Aber Ihre humanitäre Geste ist beim Adressaten dieser Botschaft, den Millionen von armen und/oder auf der Flucht vor dem Krieg befindlichen Menschen, nicht nur in den Flüchtlingslagern um Syrien, sondern auch in vielen Ländern Afrikas und Asiens, offenbar so angekommen. Und das ist entscheidend.

Hinzu kommt noch das Festhalten vieler Schreibtischhumanisten und -humanistinnen in den Medien und in der Politik am Dogma von der „nach oben unbegrenzten Zahl der Schutzsuchenden“, die in jedem europäischen Land, unabhängig von dessen Einwohnerzahl aufgenommen werden müssten – angeblich nach der Genfer Flüchtlingskonvention. Im privaten Bereich kennen die lautesten Verkünder des genannten Dogmas sehr wohl eine Obergrenze, und diese liegt – nicht nur bei Frau Merkel oder Herrn Schweiger – bei null.

Festung Europa

Wenn Frau Merkel, Herr Faymann, Herr Juncker und viele andere „Europa- und Weltenretter“ davon sprechen, dass das Flüchtlingsproblem nur an den Wurzeln, das heißt in Syrien und in anderen Ländern Afrikas und Asiens, gelöst werden kann, dann kann ihnen bestimmt niemand widersprechen.

Aber von der mächtigsten Frau Europas dürfte man, genauso wie auch vom Präsidenten der Europäischen Kommission und vielleicht sogar vom österreichischen Bundeskanzler in der gegenwärtigen Krisensituationmehr erwarten als das tägliche Herunterbeten des neuen humanitären Glaubensbekenntnisses und die Vertröstung auf eine ferne Zukunft, in der all die bösen Folgen unserer gemeinsamen „Erbsünde“ gemildert werden könnten.

Historisch gesehen, sind Menschenrechte und Rechtsstaatlichkeit, auf die heute alle schwören, unter besonders günstigen gesellschaftspolitischen und wirtschaftlichen Umständen entstanden. Geburtsort war der reiche kerneuropäische Bereich, der die meiste Zeit seiner neueren Geschichte eine Art Festung war, in demokratiepolitischer Hinsicht weitgehend abgeschottet von den Rändern des eigenen Kontinents – und erst recht von den armen, von diesem Europa ausgebeuteten Ländern und Völkern anderer Kontinente.

„Merkeln“ oder „Orbánisieren“?

Wie immer auch die Festung Europa heute definiert wird und wie erwünscht oder unerwünscht sie sein mag: Unsere europäischen Werte können mit Sicherheit nicht durch das regelmäßige Herunterbeten vom neuen, säkularen Glaubensbekenntnis in Medien und Politik und die daraus folgende unbegrenzte Zuwanderung verteidigt werden.

Fortgesetztes „Merkeln“ in der Flüchtlingspolitik jedenfalls würde eine Beschleunigung der „Orbánisierung“ Europas und eine Neudefinition der Menschenrechte – im Sinne Viktor Orbáns und/oder anderer Rechtspopulisten in Europa – nach sich ziehen.

DER AUTOR

Ao. Univ. Prof. Dr. Alojz Ivanišević, (* 1955 in Kroatien), studierte Geschichte, Ethnologie und Katholische Theologie an der Universität Wien. Seit 1988 lehrt er am Institut für Osteuropäische Geschichte. Forschungsschwerpunkte: die Wechselwirkung von Nation, Religion und Konfession, Erinnerungskulturen und Geschichtspolitiken.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 07.11.2015)

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