Der heilsame britische Stachel im Fleisch der EU

Konstrukt Europa. Man muss Europa nicht lieben, es jedoch für unverzichtbar halten. Nur eine "immer engere Union" braucht es nicht.

Die Völker Europas sind entschlossen, auf der Grundlage gemeinsamer Werte eine friedliche Zukunft zu teilen, indem sie sich zu einer immer engeren Union verbinden.“ So heißt es in der Präambel der Europäischen Grundrechtscharta, die zugleich mit dem EU-Vertrag von Lissabon in Kraft getreten ist.

Die Eurokrise und die Flüchtlingskrise, die sich nahtlos daran angeschlossen hat, haben diese Vision zu einer gefährlichen Drohung werden lassen. Wer heute noch eine „immer engere Union“ will, setzt die Existenz der EU überhaupt aufs Spiel.

In den letzten Wochen waren die Politiker Zentraleuropas vollkommen damit beschäftigt, Lösungen zur Eindämmung der Masseneinwanderung zu finden – einschließlich eines hektisch einberufenen und für Europa peinlich ausgegangenen Afrikagipfels. Die Afrikaner sind gern bereit, Geld von der EU zu nehmen, wollten aber keine Zusagen machen, die Massenemigration aus ihren Ländern nach Europa zu stoppen. In allen subsaharischen Staaten sind Geldüberweisungen von Landsleuten aus dem Ausland ein unverzichtbarer Teil des Staatsbudgets.

Inzwischen ist in Brüssel auch Post aus London eingetroffen: die britischen Vorschläge zur Reform der EU. Das hat nicht die Aufmerksamkeit gefunden, die es verdient hätte. Denn dabei geht es um nichts weniger als die Zukunft des europäischen Projekts. Wie die Verhandlungen zwischen dem Vereinigten Königreich und der EU ausgehen, davon wird das Ergebnis des Referendums abhängen, das 2017 oder schon 2016 in Großbritannien über die weitere Mitgliedschaft der Gemeinschaft abgehalten wird.

Es ist ein Missverständnis, wenn eine österreichische Kommentatorin meinte, Großbritannien spiele „Wünsch' dir was“ mit der EU. Es ist London ernst mit seinen Forderungen. Sie haben eine Substanz, die es wert ist, dass Europa sie wichtig nimmt und auch weitgehend beherzigt.

Die EU täte gut daran, auf David Cameron zu hören und ihm entgegenzukommen. Denn seine Kritik an der jetzigen EU ist weder unvernünftig noch sind seine Wünsche unbillig. Großbritannien und Cameron sind ein heilsamer Stachel im Fleisch der momentanen EU. Der Premierminister und die Briten haben recht, wenn sie sich gegen den Brüsseler Zentralismus wehren.

Die europäische Einigung ist ein Projekt der Marktwirtschaft, des Wettbewerbs, der Leistung – und nicht der Planwirtschaft, Umverteilung und der Haftung der einen für die Schulden der anderen. Nur so kann die EU in der globalisierten Welt bestehen.

„The British will never love Europe“ schrieb der „Economist“ trocken. Geschichte, Geografie, politische Kultur – alles spreche dagegen. Das müssen sie auch nicht. Lieben die Griechen etwa Europa? 1992 fragte mich der Greißler in einem kleinen Dorf am Pilion: „Was gibt es Neues in Evropi?“ Damals war Griechenland schon seit etlichen Jahren Mitglied der EG, Österreich war es noch nicht. Oder wie hat man sich die Liebe der Franzosen zu einem Europa vorzustellen, das sie nicht dominieren können? Wahrscheinlich lieben nur die Deutschen Europa wirklich oder vielleicht die Luxemburger.

Man muss Europa tatsächlich nicht lieben, aber man muss es für unverzichtbar halten. Ein rationales Verhältnis zum Konstrukt Europa ist besser als ein sentimentales, das immer dann die „Solidarität“ beschwört, wenn es wieder einmal seine eigenen Regeln bricht. Cameron selbst hat kürzlich vor dem Unternehmerverband CBI in London, der entschieden für die weitere Mitgliedschaft Großbritanniens eintritt, eine Unterscheidung zwischen Europa und den „Institutionen der EU“ getroffen, zu denen er „keinerlei emotionale Beziehung“ unterhalte.

Ungeliebtes EU-Parlament

Besonders gilt das wohl für das Europäische Parlament. London möchte nicht zulassen, dass die heiligste Institution seiner Demokratie, das Parlament in Westminster, von Straßburg bzw. Brüssel überspielt wird. Die immer latente Neigung der Kommission und vor allem des Europäischen Parlaments zu Programmen der Umerziehung der Bürger sind ein Ärgernis nicht nur für die Briten.

Die Verträge haben den nationalen Parlamenten bereits ein stärkeres Mitspracherecht gegeben. Wenn das eine Schwächung des Europäischen Parlaments bedeutet, ist das nur zu begrüßen. Die Akzeptanz der EU bei den Bürgern wird dadurch größer, dass man die nationalen Parlamente anstatt des europäischen Parlaments stärkt.

Großbritannien möchte die EU dazu bringen, endlich auch das Verhältnis zwischen den Euroländern und den übrigen EU-Ländern zu klären. Wie kommen diese dazu, dass sich alle Politik in Brüssel nur auf die Rettung der Währung konzentriert, der sie gar nicht angehören? Das Vereinigte Königreich möchte nicht zu einem zweitrangigen EU-Mitglied werden und spricht dabei nicht nur für sich.

Symbolhaft dafür wünscht sich Cameron, dass die Bezeichnung des Euro als „Währung der EU“ verschwindet. Im aktuellen Fall der Flüchtlingskrise wollen sich die Staaten westlich und östlich der Linie Balkan-Kroatien-Österreich- Deutschland-Schweden nicht die fatalistische Einwanderungspolitik Berlins zu eigen machen und zu Geiseln des deutschen Tugendterrors werden.

Kontra Sozialtourismus

Kaum Differenzen gibt es zwischen London und Brüssel über die größte Errungenschaft der EU, den Binnenmarkt. An ihm darf die EU nicht rütteln lassen, und das wollen die Briten auch gar nicht – im Gegenteil. Sie wollen ihn gegen alle protektionistischen Tendenzen ausweiten. Es ist auch kein Vergehen gegen das Prinzip der Freizügigkeit der Arbeitnehmer, wenn man den Sozialtourismus einzudämmen versucht. Darin hat Cameron einen Verbündeten im österreichischen Außenminister. Das ist jedenfalls der schwierigste Punkt in der britischen Forderungsliste an die europäischen Partner.

Für diese stellt sich die Frage: Wollen sie Großbritannien als Störenfried betrachten und als „perfides Albion“ sehen, das sich aus dem Kuchen Europa nur die Rosinen herauspicken und Europa auf den Status einer besseren Freihandelszone zurückfahren will?

Die Forderungen Londons rechtfertigen eine solche Unterstellung nicht. Stattdessen sollten die Briten als Partner angenommen werden, der wichtige Anliegen hat, deren Verwirklichung der EU helfen würde, von mancher regulatorischen Verirrung wieder auf den Weg der Vernunft, Zurückhaltung und – ein Grundprinzip der Union – Subsidiarität zurückzufinden.

Europas Gewicht in der Welt

Ohne die marktliberalen Briten würde es Deutschland noch schwerer haben, die Reste an marktwirtschaftlicher Politik in der EU gegen französische Planwirtschaft und italienische Schuldenpolitik zu verteidigen, zumal Angela Merkel ohnehin eine Neigung hat, eher sozialdemokratische als liberale Wirtschaftspolitik zu machen. Die Partner in der EU müssen sich auch fragen, welches Gewicht in der Welt und welche Anziehungskraft eine EU ohne Großbritannien hätte. Wenn die EU eine weltpolitische Rolle spielen möchte, braucht sie dazu jedenfalls das Vereinigte Königreich.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 23.11.2015)

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